Zeitzeuge Herr Liebe

Zeitzeuge  Herr  Liebe


Kurze Zusammenfassung

Unsere Zeitzeugen berichten

 

Wilhelm Liebe

 

Jahrgang 1927

 

Teil 1

Meine beiden Geschwister und ich erlebten eine wohl behütete Kindheit in Landsberg. Wir bewirtschafteten einen Hof und hatten eine Schlachterei. Leider verlor mein Vater mit 48 Jahren durch eine Blutvergiftung einen Arm und fiel als Haupternährer der Familie aus. Aber wir hielten zusammen und halfen alle, um diese Lücke zu schließen.

 

Es war Winter 1942/43. Die Lage an den Fronten sah nicht gut aus, der Vormarsch war teilweise zum Stillstand gekommen oder die Armee musste sich zurückziehen. Mein Bruder, Jahrgang 1923 war im April 1942 zur Infanterie – Standort Küstrin – eingezogen worden. Nach einer etwa halbjährlichen Ausbildung sollte er eigentlich in Afrika eingesetzt werden. Aber dort war die Front schon zusammengebrochen, und so schickte man ihn an die Ostfront. Als er sich von seinem letzten Urlaub verabschiedete, war die Stimmung in unserer Familie sehr bedrückt. Seine Reise dauerte über drei Wochen, und während dieser Zeit konnte er Feldpostbriefe schicken, die uns verschlüsselt seinen Weg zeigten. Im November erreichte mein Bruder Kallatsch. Das war ein Ort vor Stalingrad. Die letzte Feldpost schrieb er am 6. Januar 1943. Er berichtete von der grimmigen Kälte, dem vielen Schnee und der schlechten Verpflegung, die es nur einmal am Tag gab. Er hatte keine Winterbekleidung und bereits angefrorene Zehen. Wir litten mit ihm.

 

Im Radio verfolgten wir täglich den Wehrmachtsbericht. Die Truppe vor Stalingrad konnte nur aus der Luft mit Munition, Waffen und Verpflegung versorgt werden. Auf dem Rückflug nahm man Verwundete mit. Wir hofften, dass mein Bruder es auf diesem Wege schaffen würde zu überleben. Ende Januar 1943 war die Schlacht um Stalingrad verloren. Der Wehrmachtsbericht endete mit den Worten: „....so, wie es das Gesetz befahl.“

 

Anfang Februar 1943 erhielten wir dann die Vermisstenmeldung. Meine Mutter hatte im Januar schon eine böse Vorahnung. Sie hatte geträumt, ihrem Sohn wäre etwas zugestoßen. Sie sah ihn im Traum an einer Mauer kauernd liegen. In dieser Nacht schrillte unsere Glocke an der Tür. Es war aber niemand zu sehen. Und in Verbindung mit ihrem Traum kam meine Mutter zu der Erkenntnis, ihrem Sohn müsse etwas zugestoßen sein.

 

Unser Betrieb lief weiter. Wir hofften auf ein Wunder, aber niemand wagte daran zu glauben. Die Arbeit, die mein Bruder als Geselle erledigte, musste ich als Lehrling übernehmen. Mit meiner Schwester bewältigten wir im Sommer die Feldarbeit – neben der Fleischerei – und im Winter die anfallenden Hausschlachtungen, denn jeder, ob Bauer oder Arbeiter im Dorf, hatte zu jener Zeit Schweine im Stall zum Eigengebrauch und zum Verkauf.

 

Zwischendurch musste ich einige Male zur Musterung. Man setzte uns jüngeren Jahrgänge unter Druck und verlangte, dass wir uns bei der Waffen-SS melden sollten. Meine Eltern wollten das nicht, zumal mein Bruder bei Stalingrad als vermisst gemeldet war. Gerade deswegen sei ich verpflichtet, mich zu melden, drängte man mich. Ein Bekannter – selbst Offizier – riet mir, mich freiwillig als ROB (Reserve-Offiziersbewerber) zu melden. So musste ich mir bei der nächsten Musterung keine Ausrede mehr einfallen lassen, den ich war mit dieser Meldung bereits Kriegsfreiwilliger.

 

Das Jahr 1943 ging zu Ende, es war – wie alle Kriegswinter – besonders reich an Schnee und Kälte. Im Sommer 1943 wurden die Jahrgänge von 1926 eingezogen. An einem gemeinsamen Heimabend der Jungen und Mädchen verabschiedeten wir die eingezogenen Kameraden. Anfang 1944 bekam ich – ich war 16 Jahre alt – den Stellungsbefehl – als einziger meines Jahrgangs im Dorf. Alle anderen meines Jahrganges konnten noch ein halbes Jahr zu Hause bleiben, da sie in der Landwirtschaft gebraucht wurden. Zwar riet man meinen Eltern, einen Antrag wegen Unabkömmlichkeit zu stellen, weil mein Vater Invalide war, aber ob das genehmigt würde, war zweifelhaft. Die letzten Wochen vor meiner Abreise verlebte ich wie in einem Traum. Ich hätte lieber weiter bei meinen Eltern hart gearbeitet als in die Ungewissheit zu fahren. Meine Eltern erhielten als Ersatz für mich einen französischen Kriegsgefangenen, der bis zum Ende des Krieges half.

 

Am 3. März 1944 begleitete meine Mutter mich zum Bahnhof Landsberg (heute Polen). Für Mütter ist so ein Abschied besonders schmerzlich: Ein Sohn galt als vermisst, der zweite Sohn wurde Soldat. Es ist heute kaum nachzuempfinden, was Mütter in den Kriegszeiten geleistet und gelitten haben. Ich nahm von meiner Mutter und meiner Jugendliebe – meiner heutigen Frau - Abschied ohne Tränen – wir nahmen uns zusammen und hätten doch so gern geweint. Mein Leben nahm nun seinen Lauf. Man war nicht mehr das Individuum, das „Ich“, sondern einer unter Millionen, die nur noch Befehle empfingen und sie ausführen mussten.

 

Der erste Ort meines Stellungsbefehls war Küstrin. Dort traf ich gegen 12:00 Uhr ein. Der Sammelpunkt war ein bestimmter Bahnsteig. Dieser füllte sich allmählich mit Soldaten und Vorgesetzten des Arbeitsdienstes. Keiner wusste, wohin die Reise geht, und keiner wagte zu fragen. Das Reiseziel war geheim, so wollte es das Wehrgesetz. Nach fast 30 Stunden Bahnfahrt trafen wir in Zichenau (Süd-Ostpreußen) ein. Nach einem Fußmarsch von etwa einer Stunde gelangten wir zum Gelände der Arbeitsdienst-Abteilung 6/392/Zichenau. Dort wurden wir in Holzbaracken des R.A.D. (Reichsarbeitsdienst) untergebracht. 12 Mann gehörten zu einem Trupp und hatten einen Raum. Eingekleidet wurden wir am folgenden Tag. Alles musste schnell gehen. Truppweise erhielten wir unsere Dienstkleidung, und es war nicht einfach, in aller Eile die richtige Größe zu finden. Der Stahlhelm wurde vom Vorgesetzten angepasst. Spätestens beim dritten Versuch, den richtigen Kopfumfang zu finden, wurde der Helm auf den Kopf geknallt und behauptet, dass er passte, selbst wenn er auf der Kopfhaut drückte. Kaum hatten wir unsere Sachen erhalten, ertönten die Kommandos auf dem Appellplatz: „Hinlegen – auf – hinlegen, Marsch, Marsch!“ Was nach dem Appell nicht passte, konnte später in der Bekleidungskammer getauscht werden.

 

Am Tage darauf erhielten wir unser Gewehr. Eigentlich gehört zu einem Arbeitsdienstmann der Spaten. Aber wir befanden uns in einem besetzten Gebiet und mussten uns schützen. Eine Waffe zu bedienen hatten wir bereits in der Hitler-Jugend gelernt. Trotzdem wurden wir noch gründlich im Umgang mit der Waffe unterwiesen und ausgebildet. Wir erlebten harten militärischen Drill. Den Spaten gab man uns erst 14 Tage später, er stand aber meist nur im Schrank und wurde lediglich zum „Griffe klopfen“ und zum Exerzieren benutzt. Unsere Hauptaufgabe war es, mehrere Objekte zu bewachen. Für mich war die Zeit des Wachdienstes bald vorbei. Ich wurde in den Küchendienst versetzt, denn schließlich hatte ich einen entsprechenden Beruf erlernt. Ich wachte über den Ablauf der Verpflegung von über 200 Mann. Ein polnischer Koch war für die Zubereitung zuständig, polnische Küchenhilfen schälten Gemüse und Kartoffeln und säuberten die Küche. Leider war damit mein täglicher Dienst länger als der normale Dienst.

 

Nach einem Vierteljahr sollte die Entlassung sein. Aber statt entlassen zu werden, wurden wir nach Frankreich verlegt und dort an den Flakgeschützen (Flak = Fliegerabwehrkanone) ausgebildet. Es gelang mir, meinen Eltern Bescheid zu geben, die die Gelegenheit nutzten, um mich während meiner Reise nach Frankreich zu treffen. Man wusste ja nie, wann und ob man sich wiedersah.

 

Samt Feldküche wurden wir Anfang Juni 1944 auf Waggons verladen. Ein deutscher Koch begleitete unsere Abteilung. Er war dazu verpflichtet, weil er nicht mehr „kv“ (kriegsverwendungsfähig) war mit seinen 50 Jahren. Wir waren 8 Tage unterwegs auf der Ostbahnstrecke. Der Truppentransport ging über Posen, Schneidemühl, Landsberg, Küstrin (damals alles deutsche Gebiete), Berlin, über Kassel zum Rhein und zur Mosel, nach Straßburg, Metz, Nancy, Paris.

 

Meine Heimatstadt Landsberg passierten wir im Morgengrauen. Für kurze Momente war ich in Gedanken wieder zu Hause, aber der Zug rollte unerbittlich weiter.

 

Hinter der Lokomotive befanden sich die Mannschaftswaggons. Denen folgte ein Waggon mit den Pferden, die die Feldküche mit den Verpflegungswagen ziehen mussten, und der Waggon mit Verpflegung, also Kartoffeln, Konserven und Sonstiges. In diesem Waggon war meine Schlafstätte zusammen mit dem Koch. Danach kam die Feldküche und dann ein offener Waggon mit einem Maschinengewehr zur Flugabwehr, was auch immer besetzt war. Als wir Berlin durchfuhren, sahen wir die ersten Bombenschäden. Sobald Einwohner unseren Truppentransport sahen, sei es auf Bahnhöfen, an Straßen, an geschlossenen Schranken oder Gärten und Feldern und Vororten, winkten sie freundlich. Ich hatte das Gefühl, man wollte uns Mut machen.

 

An der Grenze nach Frankreich wurden wir mit scharfer Munition versorgt, denn wir mussten mit Partisanen-Angriffen rechnen. Alle wichtigen Brücken und Knotenpunkte waren von unseren Soldaten bewacht. Kurz vor Paris hatten wir einen längeren Aufenthalt um die Mittagszeit herum. Das nutzten wir, um Essen auszugeben. Truppweise wurde der Eintopf in Kanister abgefüllt. Ich wollte gerade einen leeren Kessel säubern, als plötzlich feindliche Jagdflugzeuge am Himmel erschienen. Es waren Engländer. Sie griffen unseren Transport mit ihren Bordwaffen an. Jeder suchte, so gut er konnte, Deckung. Ich verkroch mich unter der Achse und hinter den Rädern des Waggons. Ehe ein neuer Angriff erfolgte, sprang ich aus meiner Deckung hinein in den Waggon, schnappte mir Stahlhelm, Gasmaske und Gewehr. Links und rechts von den Bahngleisen war hoher Waldbestand, und man konnte nicht wissen, ob sich vielleicht Partisanen im Wald versteckten und den Halt unseres Transportes verursacht hatten. Als ich den Waggon verließ, sah ich, dass die feindlichen Jäger wieder anflogen. So schnell ich konnte, lief ich den Bahndamm hinunter, sprang über einen Wasserlauf und fand Deckung hinter einem dicken Baum. Die Bordwaffen hämmerten auf unseren Truppentransport nieder. Außer einigen Wasserspritzern bekam ich nichts ab. Bevor der nächste Anflug stattfand, entfernte ich mich weiter vom Zug. Der ganze Überfall dauerte etwa eine Viertelstunde, dann war die Lokomotive zerschossen. Dampf trat mit lautem Getöse aus den Einschusslöchern. Ein weiterer Waggon war in Brand geraten. Wir löschten den Brand. Auch die übrigen Waggons hatten viele Treffer. Selbst der Kasten, der die Asche der Feldküche auffing, war zerschossen. Es fehlten nur wenige Zentimeter, und der Kessel wäre unbrauchbar gewesen. Wir hatten viel Glück: Keiner wurde verletzt, wohl aber waren einige geschockt, denn es war der erste Kontakt mit dem Feind. Unsere beiden Pferde in dem Waggon blieben unversehrt, obwohl die Geschossgarbe genau zwischen ihnen hindurchging. Es vergingen Stunden, bevor die Lock und der Waggon abgekoppelt waren und wir die Fahrt fortsetzen und aus der Mausefalle entkommen konnten.

 

Auch in Paris hatten wir einen ungeplanten Aufenthalt. Wegen englischer Fliegerangriffe mussten wir U-Bahn-Schächte aufsuchen. Durch Sperrfeuer unserer Flakgeschütze wurden einige Flugzeuge abgeschossen. Südlich von Paris endete unsere Reise auf einem Abstellgleis. Dann kam die Wende.

 

Bearbeitet von: Ute Mielow-Weidmann


Teil 2

 

Ab 6. Juni 1944 waren die englischen und amerikanischen Streitmächte an der Küste der Normandie gelandet. Alle verfügbaren Kräfte unserer Einheiten wurden eingesetzt, um die Landung zu stoppen, auch die Flakeinheiten, in denen wir ausgebildet werden sollten. Nach Tagen des Wartens auf den Abstellgleisen südlich von Paris kam der Befehl zur Umkehr. Die Fahrt ging zurück nach Deutschland und weiter gen Osten zu unserem Ausgangspunkt nach Zichenau, dem Standort meiner Einheit.

Wir fuhren wieder durch meine Heimatstadt Landsberg, denn das war die Strecke der Ostbahn, einer Bahn, auf der viele Zehntausende Soldaten transportiert wurden. Alle folgten den Befehlen bedingungslos. Das eigene Ich zählte nichts. Das wurde uns schon seit dem zehnten Lebensjahr eingebläut. Verweigern konnte man sich nicht.


Auf jeden Fall waren wir erst einmal froh, von der Westfront abgezogen worden zu sein. Es begannen sehr harte Kämpfe mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Langsam, aber stetig, mussten sich die deutschen Truppen der Übermacht beugen, und der Rückzug begann an allen Fronten im Westen.


Da nun das geplante Vierteljahr der Arbeitsdienstzeit vorüber war, stand die Entlassung meiner Einheit an. Nach etwa vier bis fünf Wochen stand dann gewöhnlich die Einberufung zur Wehrmacht an. Überraschend erhielten wir drei Tage Urlaub, um unsere Zivilsachen zu holen. Zum großen Erstaunen meiner Eltern und meiner Schwester war ich plötzlich zu Hause. Sie nahmen ja an, ich sei im Westen. Montag bis Mittwoch – das waren meine Urlaubstage. Langeweile gab es nicht. Es waren schöne Sommertage und für mich viel Arbeit. Montag war die Heuernte zu bewältigen. Dienstag war Schlachttag in Landsberg, der mir immer viel Spaß bereitete. Und der Mittwoch war für Arbeiten vorgesehen, für die man eine männliche Arbeitskraft benötigte. Der Donnerstag war dann der Abreisetag mit dem Gedanken, in einer Woche wieder zu Hause zu sein. Ich war ganz sicher, dass es klappen wird, denn am 11. Juli wollte ich mit meiner Freundin den 18. Geburtstag feiern. Einen Tag später, am 12. Juli, hatten meine Eltern Silberhochzeit. So fiel der Abschied nicht schwer, denn ich wäre ja in acht Tagen wieder daheim. Leider sah die Wirklichkeit anders aus.


Da auch die Ostfront ins Wanken geriet und die Russen bis auf 30 km zu uns vorgedrungen waren, wurde unsere Entlassung gestrichen. Unsere Einheit war als Ersatzreserve 1 zum Einsatz vorgesehen. Wir schickten also unsere Zivilsachen zurück. Die Enttäuschung war groß: keine Geburtstags- und keine Silberhochzeitsfeier. Der normale Dienstbetrieb ging weiter. Wir erhielten eine besondere Ausbildung im Gelände mit scharfer Munition sowie im Panzerfaustschießen. Es vergingen Wochen und Monate. Die Front hatte sich stabilisiert. Zwar hörte man den Donner der Geschütze und die Russen besuchten uns mit kleinen Aufklärungsflugzeugen und schreckten uns mit ihren Bomben aus dem Schlaf, aber sonst passierte nicht viel. Ich arbeitete wieder in der Küche und organisierte die Essensvorbereitung und -ausgabe. Eines Tages, es war Sonntag, die Abteilung hatte die Mahlzeit hinter sich, begab ich mich zu meinem Trupp und traf dort den Abteilungsführer, den Hauptmann. Wie üblich machte ich meine zackige Ehrenbezeugung. Trotzdem hielt er mich an und erklärte mir, dass er mich als länger Dienenden beim Arbeitsdienst behalten wolle, obwohl meine Abteilung in Kürze entlassen würde. Ich lehnte das nicht ab, verknüpfte meine Zusage jedoch damit, meine Gesellenprüfung ablegen zu dürfen, da man mich vier Wochen vor dem Prüfungstermin einberufen hatte. Er stimmte einem Sonderurlaub von 10 Tagen zu.


Mit Freuden trat ich den Urlaub an und konnte am 24.10.44 meine Gesellenprüfung für das Fleischerhandwerk in Landsberg ablegen. Ich musste meine gesamte Ausrüstung – auch die Waffe – mitnehmen, weil die Lage an der Front angespannt war. Obwohl die Züge in Frontnähe nicht planmäßig fuhren, traf ich meine Einheit noch an. Auf dem Weg dorthin war der Himmel in Richtung Front rötlich erleuchtet und lautes Grollen war weit und breit zu hören. Aber das war schon zur Gewohnheit geworden.


So verliefen die Wochen ohne besondere Vorkommnisse und die Kriegsweihnacht 1944 stand vor der Tür. Seit dem 3. März 1944 war ich nun schon bei der Arbeitsdiensteinheit 6/392 Zichenau (Süd-Ostpreußen), etwa 100 km nordöstlich Warschau, eingezogen. Die Kriegsweihnacht 1944 musste ich fern von der Heimat, fern von Eltern, Schwester, Jugendfreunden und meiner Freundin verleben. Am Vorabend des Heiligen Abends erhielt ich Order, am kommenden Morgen ebenfalls zum Morgenappell anzutreten. Während meiner Tätigkeit in der Küche brauchte ich dies normalerweise nicht. Nach der Ausgabe der Parole und der Flaggenhissung wurden drei Namen aufgerufen, darunter auch meiner. Zusammen mit den beiden Kameraden stand ich vor der Abteilung. Wir wurden zum Obervormann befördert und waren stolz darauf. Außerdem hatte ich dienstfrei und durfte an diesem Tag die Küche nicht mehr betreten. Dafür hatte ich den Auftrag, zusammen mit einem Kameraden einen Tannenbaum zu besorgen. Wir befanden uns in dem von uns besetzten Gebiet und mussten mit Feindeinwirkung durch Partisanen rechnen. Bewaffnet mit dem Gewehr und einer Axt fuhren wir mit dem Fahrrad etliche Kilometer, bis wir im verschneiten Wald den richtigen Baum in der richtigen Größe fällen konnten und beeilten uns, die etwas beschwerliche Rückfahrt anzutreten. Wir meldeten uns ohne besondere Vorkommnisse in der Abteilung zurück.


Spärlich schmückten wir den Baum mit Lametta und Äpfeln, die aus der Verpflegung und den Feldpostpäckchen von zu Hause stammten. Den Heiligen Abend haben wir drei Beförderten mit den Truppführern (Unteroffizieren) und Feldmeistern (Offizieren) gefeiert. Es floss außer der gewöhnlichen Verpflegung reichlich Alkohol, und am Ende waren wir alle per du. Mit gelöster Zunge sangen wir Weihnachtslieder. Der Alkohol sollte uns ablenken und unsere Gedanken an ein Weihnachten zu Hause verdrängen. Wir waren ja erst 17 Jahre alt und schon Soldaten, und es war Krieg. Keiner wusste, ob und wann es wieder einmal Urlaub gibt. Die klaren Nachthimmel mit den Sternen und dem Mond ließen Heimweh aufkommen. Am nächsten Tag war die Wirklichkeit wieder präsent und die Vorgesetzten wurden mit „Sie“ angesprochen.


Ab dem 2. Feiertag gab es Alarm. In der Ferne hörte man die Front. Einen Tag später, am 27.12.44, wurden wir auf die Bahn verladen und landeten in einem kleinen Ort nahe Steinau an der Oder (heute Polen), in Kunzendorf. So waren wir vor dem Zugriff der Roten Armee zunächst gerettet. Zum Jahreswechsel 1944/45 waren wir sehr erbärmlich bei einer SS-Einheit in Kunzendorf untergebracht. Betten gab es nicht. Jeder lebte aus dem Tornister (Affe genannt). Die Schlafstätte war ein Strohlager mit 20 bis 25 Mann in einem Raum. Mein Job war die Küche, das heißt, die Feldküche unter freiem Himmel. Um 7:00 Uhr morgens sollte der Kaffee für die Truppe fertig sein. Häufig musste ich mir zuerst den Weg vom Schnee frei schippen, um an die Küche heranzukommen. Befeuert wurde die Feldküche mit Holz und Kohlen. Alles war nass und kalt, und ich war froh, wenn das Feuer brannte. Schnee und Kälte setzten mir arg zu. Nach einigen Tagen tat ich den Obersten wohl leid, und so wurde ein Dach über meine Arbeitsstätte gebaut. Das war angenehm. Pünktlichkeit war wichtig: Kaffee 7:00 Uhr, Mittagessen 12:00 Uhr, Abendessen 18:00 Uhr. Weil ich alles so selbstverständlich und pünktlich schaffte, erhielt ich für meinen Einsatz lobende Worte und 10 Tage Sonderurlaub. Das war eine große Überraschung, denn ich erfuhr erst einen Tag vor Beginn des Sonderurlaubs davon, bekam einen Urlaubsschein und eine Fahrkarte.


Die Fahrkarte war allerdings anscheinend für den D-Zug nicht gültig. Da ich den schnellsten Zug genommen hatte, musste ich mich mit dem Schaffner auseinandersetzen und sollte am nächsten Bahnhof aussteigen und mit einem Personenzug weiterfahren. Der Zug war voller Landser. Sie ergriffen für mich Partei und veranlassten, dass der Schaffner verschwand und nicht noch einmal kontrollierte. Die Kameradschaft war groß, und obwohl man sich nicht kannte, trat einer für den anderen ein. So war ich einige Stunden früher zu Hause als geplant. Der Winter hatte mit Schnee und Kälte alles fest im Griff, und es war schön, ein paar Tage der Geborgenheit zu spüren. Über den Zustand unserer Unterbringung bei der Truppe sprach man nicht mit den Angehörigen, um sie nicht zu belasten. In meinem Heimatdorf kannte jeder jeden. Es sprach sich schnell herum, wenn ein Urlauber eingetroffen war. Treffpunkt war abends die Dorfgaststätte. Man spürte, wie sehr man miteinander verbunden war. Das war Heimat.


Mein Urlaub war mit der Abfahrt des Zuges aus Landsberg Richtung Küstrin am 18. Januar 1945 beendet. Ich stieg in Küstrin um und fuhr weiter in Richtung Süden nach Steinau an der Oder. Unterwegs gab es in einer Stadt Fliegeralarm. Alle mussten die Züge verlassen und Schutzräume aufsuchen. Ich entschloss mich, im Zug zu bleiben und erst einmal abzuwarten. Die Ruhe um mich herum und das angespannte Lauschen auf Flugzeuggeräusche ließen mich in einen tiefen Schlaf versinken. Nach etwa einer Stunde war Entwarnung, und die Fahrgäste kamen zurück. Auf jeden Fall hatte ich meinen Platz sicher, denn in dieser Zeit waren alle Züge mit Soldaten und Zivilisten überfüllt. Der Zug setzte seine Fahrt fort, es wurde dunkel. Wegen der völligen Verdunkelung konnte ich die Namen der Bahnhöfe, an denen der Zug hielt, nicht erkennen. Und so kam es, wie es nicht kommen durfte: Ich verpasste in Steinau das Aussteigen. Das bemerkte ich erst, als der Zug über die Oderbrücken mit viel Lärm holperte. Voller Entsetzen war ich auf einmal hellwach und überlegte, was zu tun wäre. Ich musste um 24 Uhr bei meiner Einheit sein. Ein Aussteigen war unmöglich. Keiner wusste, wann der Zug wieder halten würde. Nach einer für mich unendlich langen Zeit von etwa 2 Stunden hielt der Zug in Glogau, ein Name, den ich nie vergessen werde. Schnell verließ ich den Zug. Mein Weg führte mich zur Bahnhofs-Kommandantur. Dort meldete ich mich und hatte Glück im Unglück: Durch den Fliegeralarm waren alle Fahrpläne der Bahn durcheinander geraten. Es kam kurz darauf ein verspäteter Zug aus Dresden, mit dem ich die Rückreise antrat. Aber diesmal verpasste ich das Aussteigen nicht. 8 bis 9 km Fußmarsch durch die kalte schneereiche Winternacht bei hellem Mondschein lagen noch vor mir Ich schaffte es und war etwa eine Viertelstunde vor 24 Uhr bei meiner Einheit. Im Krieg galten besondere Gesetze, und ein Überschreiten der Urlaubszeit hätte mir mindestens drei Tage Arrest eingebracht – Glück gehabt.


Bearbeitet von: Ute Mielow-Weidmann


Teil 3

 

Trotz meines Missgeschicks – ich hatte vergessen, rechtzeitig auszusteigen – traf ich am 18. Januar 1945 gerade noch pünktlich an meinem Dienstort in Kunzendorf (heute Polen) ein. Der kurze Urlaub war beendet.


Meine Vertretung hatte sich am Abend davor beim Öffnen des Deckels der Feldküche, der ja immer unter Überdruck stand, eine Körperseite verbrüht und wurde ins Lazarett gebracht. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.


In den Tagen meiner Abwesenheit hatte sich einiges zugetragen: Die Abteilung war entlassen worden. Die Unterführer-Vormänner und die oberen Dienstgrade blieben für die neuen Einsatzkräfte, die schon etwa am 20. oder 21. Januar 1945 eintrafen, in Kunzendorf. Schnell wurden die neuen Arbeitsmänner eingekleidet und notdürftig im Umgang mit den Waffen vertraut gemacht. Die Lage an der Front hatte sich dramatisch zugespitzt. Die Rote Armee stieß unaufhaltsam bis zur Oder vor. Unsere Arbeitsdiensteinheit wurde eilig aus der Gefahrenzone verlegt. In Etappen setzten wir uns in Marsch, teils zu Fuß, teils mit Fahrrädern, obwohl das wegen des tiefen Schnees fast unmöglich war. Also mussten die Fahrräder geschoben werden. Da wir nur ein Pferdegespann hatten, um den Verpflegungswagen und die Feldküche zu bewegen, musste ich bis zum Schluss warten, das hieß, bis zur völligen Dunkelheit. Teils war das gut, weil uns auch kein Flugzeug mehr sehen konnte, teils war es eine Behinderung wegen der schlechten Sicht.


Als endlich der Fahrer mit den Pferden kam, um mich und die Feldküche samt Verpflegungswagen abzuholen, wurde der Schneefall immer stärker, von der Kälte gar nicht zu sprechen. Für die Pferde war es eine schwere Last. Immerhin hatten sie acht Räder durch den fast knietiefen Schnee zu ziehen. Ich lief hinter dem Gefährt her, um aufzupassen, dass wir nicht von der Straße abkamen. Mühsam kamen wir voran. Die Pferde waren ermattet und blieben häufiger stehen. Bei einem erneuten Halt waren wir von der Straße abgekommen und zwischen den Pferden befand sich ein dicker Baum. Der Fahrer war eingeschlafen. Nachdem ich ihn geweckt hatte, brachten wir gemeinsam das Gefährt wieder auf die Straße. Mit Kommissbrot stärkten wir die Pferde, und weiter ging es bis zum nächsten Stopp. Auch diesmal war der Fahrer eingeschlafen, die Pferde stoppten von selbst, weil vor ihnen ein großer Militär-LKW stand. Nach diesem Vorfall musste der Fahrer auf mein Drängen erst einmal eine Weile neben dem Wagen her laufen. Ich stellte fest, dass eine Flasche Alkohol die Ursache seines Schlafes war. Etwas nüchterner bestieg er den Wagen wieder, denn das Laufen im tiefen Schnee wollte nicht so recht klappen. In der Nacht erreichten wir die erste Übernachtungsstätte. Die Unterkunft war eine Turnhalle. Jeder suchte sich einen Platz zum Ausruhen. Man war zufrieden, dass man erst einmal einen warmen und trockenen Platz hatte.


Der nächste Tag war wieder ein kalter Wintertag. Nachdem ich den Kaffee aus der Feldküche ausgegeben hatte, bekam ich Order, in Steinau zu einem Schlachter zu gehen, um dort beim Schlachten zu helfen. Unser Verpflegungs-Feldmeister erhoffte sich dadurch eine Lieferung Fleisch und Wurstwaren. Da Steinau nicht allzu groß war, fand ich schnell den besagten Betrieb. Nach etwa drei Stunden kam ein Kurier, um mich wieder zur Einheit zurückzuholen. Warum? Das habe ich damals nicht erfahren. Die Rote Armee war bis zur Oder vorgedrungen, die ersten Panzer waren vor der Brücke abgeschossen worden. Unsere Einheit musste sich absetzen, denn wir hatten ja keinerlei schwere Waffen, nur das Gewehr. Bis in die späten Abendstunden zog sich der Marsch durch die Orte Niederschlesiens. Die Gegend war mir fremd. Ein Ortsschild – Sagan – erinnere ich noch, weil ein Schulfreund mit seinen Eltern dorthin verzogen war.


In der Nacht bezogen wir irgendwo Quartier in einer militärischen Unterkunft. Zu dritt lagen wir vor Erschöpfung quer in den Betten, mit allen Klamotten. Befehlsgemäß mussten wir unsere Armbinde von der Uniform abtrennen, die dann anschließend in dem kleinen Heizofen verbrannt wurde. Das war nötig, weil die Russen jeden, der eine Hakenkreuzbinde trug, erschossen. Wir als Arbeitsdienstler trugen diese sogenannten Kampfbinden.


Von dem Augenblick an spürte ich, dass die Kriegslage aussichtslos geworden war und der Feind nicht mehr aufzuhalten sein wird. Am nächsten Tag bewegten wir uns weiter gen Westen und erreichten einen kleinen Verladebahnhof. Der Ort hieß Kohlfurt. Wir wurden in Eile verladen auf einen Güterzug - mit der Feldküche. Im Dunkeln holte uns eine Lok schnellstens aus dem Bahnhof, denn am anderen Ende des Dorfes rückten die russischen Panzer ein. Einige Tage lagen wir auf der Bahn. Mal fuhren wir schneller, mal standen wir stundelang, bis wir freie Fahrt hatten. Das Ziel war uns niedrigen Dienstgraden nicht bekannt, und keiner fragte, wohin die Reise geht. Der Kadaver-Gehorsam verbot es in dieser Zeit, Fragen zu stellen. Gelandet sind wir nach einigen Tagen in der Tschechei, dort, wo die Moldau in die Elbe fließt, in Melnik. Wieder war es Nacht, als wir ausgeladen wurden. Alles war tief verschneit. Ein ziemliches Gefälle musste überwunden werden fast bis zur Brücke des Flusses. Da die Pferde bei der Glätte das Gefährt nicht halten konnten, bat ich meinen Vorgesetzten, 8 – 10 Mann abzustellen, die dann mit Hilfe von Seilen das Abbremsen unterstützten, um so am Ende der Bergstraße gut zu landen. Wir überquerten den Fluss. Etwa 3 – 4 km hinter der Brücke bezog unsere Einheit bei einer dort bestehenden Arbeitsdiensteinheit Quartier.


Es gab keine Betten für uns. Wir schliefen in den frei geräumten Räumen auf Stroh auf dem Boden. Das waren wir ja schon gewohnt und sollten es auch noch bis April ertragen müssen. Die Hauptsache war, dass wir ein Dach über dem Kopf hatten und weit und breit kein Feind in Sicht war. Verpflegt wurden wir von der bestehenden Küche. Die Verpflegung war, da wir ja alle noch Jugendliche waren, gut und reichlich. Nach einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem Oberst und dem Feldmeister (Hauptmann) der fremden Abteilung verwies man mich unter Androhung von 3 Tagen Arrest der Küche. Folgendes war geschehen: Ein Arbeitsdienstmann kam in die Küche, gab etwas ab und sagte, er hätte großen Durst. Daraufhin gab ich ihm eine Tasse Kaffee. Das wurde moniert. Ich sollte mich sofort bei meiner Einheit melden. Das tat ich und schilderte meinem Abteilungsführer den Vorfall. Mit einem Lächeln über deren Dienstauffassung war wurde ich vom Küchendienst befreit und tat von nun an Dienst als Obervormann ZB (zur besonderen Verwendung) Das machte mir viel Spaß. So verging die Zeit von Anfang Februar bis zum 4. April 1945. Sonntags gingen wir manchmal bummeln in der kleinen Stadt Melnik. Es gab sogar die Gelegenheit, ins Kino zu gehen, allerdings nur in Gruppen von 4 – 5 Mann, wobei immer ein Mann ein Gewehr mitführen musste. Es war schließlich von uns besetztes Gebiet, und es war überall Vorsicht geboten. Über die genaue Kriegslage waren wir schlecht informiert. Post gab es von den Eltern und Angehörigen nicht mehr seit dem 18. Januar 1945, als ich meinen letzten Urlaub beendet hatte. Ich wusste nicht, wie es meiner Familie ging, und sie wussten nichts von mir.


Klar war mir, dass sich die Ostfront bis zur Oder vorgeschoben hatte und dass unser Haus besetzt war, aber alles andere Böse konnte ich nur erahnen. Auch im Westen war die Front an und über die Reichsgrenzen ins Land zurückgenommen. Wir wussten, dass die Städte bombardiert wurden, hatten aber keine Vorstellung von den wahren Ausmaßen. Am 14. Februar bebte sogar bei uns in der Tschechei die Erde, als Dresden im Bombenhagel der Alliierten versank. Von unserem Standort konnten wir beobachten, wie die Bomberverbände wendeten und wieder Dresden anflogen. Es vergingen einige Wochen. Der Frühling hielt Einzug. Am 1. Osterfeiertag – am 4. April 1945 – marschierten einige Kameraden und ich zu einem Kinobesuch nach Melnik. Wir sahen den Film „Große Freiheit“ mit Hans Albers in der Hauptrolle. Nach dem Film herrschte beim Ausgang große Hektik. Die SS-Verbände in der Stadt hatten Alarm und mussten nach dem Kinobesuch sofort zu ihrer Einheit. Wir erfuhren beim Passieren der Wache, dass auch bei uns der Alarmzustand ausgerufen worden war. Alles ging sehr schnell. Binnen 2 Tagen waren wir wieder auf der Bahn, in Waggons verladen, und fuhren Richtung Deutschland. Das Ziel war – wie immer – unbekannt. In einer der letzten Nächte hatte ich einen seltsamen Traum, der mich immer begleitete und an den ich fest glaubte: Der Krieg ist verloren, und ohne einen Kratzer habe ich alles überstanden und kehre in Stiefeln und nur mit einem Hemd und einer Hose bekleidet nach Hause zu meinen Angehörigen zurück.


Die Reise ging ausgerechnet über Dresden. Jetzt sahen wir die Wahrheit: Soweit das Auge sehen konnte, erblickten wir Trümmer über Trümmer. Notdürftig waren die Gleise repariert worden, und deswegen fuhren die Züge sehr langsam. Ohne Behinderung durch feindliche Flieger trafen wir in der bekannten Garnisonsstadt Jüterbog ein – südlich von Berlin. Dort wurden wir von der Wehrmacht übernommen und bekamen fronterprobte Zug- und Gruppenführer, die gerade von der Kriegsschule kamen.


Ausgerüstet wurden wir mit den damals neuesten Schnellfeuergewehren, die eine sehr große Feuerkraft hatten. Es folgte eine sehr intensive infanteristische Ausbildung. Morgens um 7:00 Uhr ging es los. In dem angrenzenden Gelände der Kaserne lernten wir, mit der Panzerfaust umzugehen. Wegen der Luftangriffe mussten wir zwei- bis dreimal des Nachts die Kellerräume aufsuchen. Am 17. April 1945 wurden wir vereidigt in einem Stadion in Jüterbog. Es waren einige Tausend junge Männer, alle etwa 17 Jahre alt. Während wir in einem offenen Viereck den Eid leisten mussten, flogen unsere Messerschmitt-Jäger zur Luftsicherung, um uns gegen Feindeinwirkung zu schützen. Es war schon ein recht komisches Gefühl, den Eid zu schwören, obwohl man fast ein Vierteljahr nichts von Eltern und Angehörigen wusste und die Heimat bereits von der Roten Armee besetzt war. Die Russen näherten sich Berlin und die Engländer und Amerikaner standen fast bis zur Elbe, und wir schworen einen Eid auf Führer und Vaterland! Nach diesem feierlichen Akt marschierten wir wieder zu unserer Kaserne, aber nur noch für eine Nacht – mit der gewohnten Unterbrechung: Fliegeralarm.


Am kommenden Tag verließen wir die Kaserne und verlagerten uns in die nahe gelegenen Wälder, da die Nachbarkaserne in dieser Nacht zerbombt wurde. Meine Einheit war ein sogenanntes Füsilier-Bataillon, das dem Regiment unterstellt war. Die Füsiliere waren früher eine Reitertruppe mit leichten, aber schnellen Pferden, die überall dort eingesetzt wurden, wo der Feind drohte, die Fronten zu durchbrechen. Man hatte uns daher mit Fahrrädern ausgerüstet, damit wir beweglicher waren. Dazu erhielten wir die modernsten Sturmgewehre. In jeder Gruppe befand sich ein Scharfschütze, und wir hatten jede Menge Panzerfäuste. Damit sollten wir den Feind aufhalten oder angreifen. Geplant war alles gut, aber die Wirklichkeit sah leider ganz anders aus. Die Übermacht des Feindes war einfach zu groß. – wird fortgesetzt.


Bearbeitet von: Ute Mielow-Weidmann


4. Teil

 

Ich war also in einem Füsilier-Bataillon, ausgerüstet mit einem Fahrrad, Sturmgewehr und Panzerfäusten – obwohl ich eigentlich ja nur meine Zeit beim Arbeitsdienst ableisten wollte.

 

Wir sollten an der Westfront zum Einsatz kommen. Engländer und Amerikaner näherten sich bei Torgau der Elbe. Die Rote Armee stieß zügig auf Berlin zu. Als Meldungen über Waffenstillstandsverhandlungen im Westen durch die Truppe liefen, wurden wir doch noch an der Ostfront eingesetzt, um den Vormarsch der Russen auf Berlin zu stoppen oder mindestens zu verzögern. So kam es, dass wir am 19. April 1945 gegen Abend eine Stellung im Raum Kummersdorf, etwa 35 – 40 km südlich Berlin, beziehen mussten. Der Raum Kummersdorf galt als Truppenübungsplatz. Dort lösten wir eine Einheit ab, die durch Abschuss eines russischen Panzers an einer Panzersperre den Angriff gestoppt hatte. Da das Gelände links und rechts der Straße einen moorigen Untergrund hatte, war ein Befahren mit Panzern nicht möglich, und die Russen lagen erst einmal fest. So konnten wir die Russen an einem Waldrand aus etwa 300 – 400 Metern Entfernung beobachten. Durch versprengte Soldaten erfuhr der jeweilige Offizier des Kampfabschnittes, dass sich hinter dem abgeschossenen Panzer noch weitere 10 – 12 Panzer befanden. Eilig wurden uns die Panzerfäuste angeliefert, und unser Zug erhielt den Befehl, diese Stahlkolosse anzugreifen. Unser Zugführer war ein erfahrener Frontsoldat und äußerte Bedenken, denn wir hatten keine Fronterfahrung mit Feindberührung. Ein Nahkampf gegen Panzer und den kampferprobten Russen sei ein Absurdum. Mit harten Worten befahl der Offizier unserem Zugführer, den Befehl auszuführen, denn Befehlsverweigerung könnte Folgen haben. Wir wurden in zwei Gruppen eingeteilt, eine links, eine rechts der Straße, vor uns der Unteroffizier. So robbten wir uns im Schutz der Straße in einem Graben dem Feind entgegen. Als wir in Reichweite ihrer Maschinenpistolen waren, empfing uns ein gehöriges Abwehrfeuer. Noch bewegten wir uns im toten Winkel, und die Kugeln zischten über uns hinweg. Je näher wir ihnen kamen, desto heftiger wurde die Abwehr. Die Besatzungen der Panzer waren ausgestiegen und hatten sich auf der Panzersperre postiert. Man wartete auf uns. Jeder versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, denn die Luft wurde immer bleihaltiger, das Zischen war immer dichter. In dieser aussichtslosen Lage brach unser Unteroffizier die Vorwärtsbewegung ab und somit den Angriff. Langsam robbten wir zurück und waren froh, alle ohne Verletzungen den Ausgangspunkt wieder erreicht zu haben. Wir bezogen am Waldrand Stellung bis zum Morgengrauen.

 

Der abgeschossene Panzer war inzwischen ausgebrannt, da sich der Brennstoff entzündet hatte und die Munition explodiert war. In der Ferne hörten wir das Anlassen der Panzer. Das machte uns hellwach. Überraschend wurden wir von einer Einheit abgelöst, darunter auch Volkssturmmänner, was uns unverständlich war. Eile gebot uns der Zugführer, denn er ahnte, dass die Stellungen den Feind nicht lange aufhalten konnten. Schnell bestiegen wir unsere Fahrräder, um wieder an den Ausgangspunkt zu gelangen. Von dem Offizier, der uns den sinnlosen Angriffsbefehl gab, war weit und breit nichts mehr zu sehen. Er war einfach verschwunden.

 

Wir gelangten in Aufenthaltsräume und erhielten erstmals nach 12 Stunden Essen. Die meisten von uns schliefen beim Frühstück ein. So gegen 11 Uhr gab es erneut Alarm, denn die Russen hatten uns eingeholt. Den ausgebrannten Panzer hatten sie beiseite geschoben, die Panzersperre entfernt. Am Ortsrand stießen sie mit ihren Panzern auf gut getarnte Panzerabwehrkanonen. Diese brachten 6 Panzer zur Strecke. Dadurch wurde auch dieser Angriff zum Stehen gebracht. Daraufhin setzten die Russen die Infanterie ein und verwickelten uns in Straßenkämpfe, die immer wieder zum Rückzug zwangen. Wir mussten ständig die Stellungen wechseln, Straßen überqueren, die unter Beschuss lagen. Der Unteroffizier sprang vorweg, und ich bildete den Schluss. Meine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Gruppe geschlossen bleibt. Es klappte nur einige Male, dann war die Lage sehr kritisch. Da man nur mit viel Glück die Straße überqueren konnte, blieben einige Kameraden liegen. Die Angst trieb ihnen die Tränen in die Augen, sie verweigerten den Sprung und blieben in Deckung. Alles Zureden half nichts. Ich selbst passte eine Feuerpause ab und fand den Anschluss an meine Gruppe. Ich musste das Verhalten meiner Kameraden melden. Aber das war nicht mehr von Bedeutung, denn alles entwickelte sich zu einem Chaos. Dann sollten wir eine Stellung besetzen. Durch ein kleines Wäldchen versuchten wir, sie zu erreichen. Wir waren noch zwischen jungen Bäumen, als ich das Gefühl hatte, dass Bienen oder Wespen mich umschwirrten. Als dann neben mir kleine Äste zersplitterten, merkten wir, dass man uns schon erwartet hatte. Die Russen waren vor uns da. Nichts war mehr mit Gegenwehr, die Übermacht zwang uns zur Umkehr. Das passierte uns noch einige Male, bis wir uns am Abend in ein Waldstück zurückzogen, das vollkommen unübersichtlich war.

 

Der Wald bot nun Schutz für unzählige Soldaten. Die Feinde zu verfolgen war aussichtslos. Offiziere waren kaum zu sehen. Hatten sie sich schon abgesetzt? Nur Feldwebel und Unteroffiziere gaben Befehle. Wir sollten uns in Richtung Norden, also Richtung Potsdam, durchschlagen. Zu Anfang waren wir ein ziemlich großer Haufen. Aber irgendwie wurde der Haufen immer kleiner, sei es durch Erschöpfung, sei es durch Verwundung.

 

In diesem Chaos fand ich meinen Freund Albert Baber wieder, Menne genannt. Er war seit kurzem der Bursche des Majors. Der Major war nirgends zu finden, nur seinen Mantel hatte Menne noch zu tragen. Da es in der Nacht kalt war, zog er ihn einfach an. So marschierten oder schlichen wir durch das Gelände. Wir waren immer darauf vorbereitet, auf den Feind zu stoßen. Im Mondschein hörten wir beiden von Kameraden: „Da ist der Major!“ So schöpften die Männer neuen Mut. Ich ermahnte meinen Freund, den Mantel auszuziehen, denn das gäbe nur Ärger. Aber er meinte nur, wenn es hell sei, dann zöge er ihn aus. Solange sollte jeder ruhig denken, der Major wäre dabei. Wir waren eine Gruppe von 20 bis 30 Mann. Plötzlich ertönten vor uns die Rufe: „Stoi! Stoi!“. Wir sahen in die Mündungsfeuer von Maschinenpistolen. Uns blieb der Atem stehen, und wir suchten hinter einem Erdwall Deckung. Da mein Kamerad vor mir war, rief ich: „Menne, schließ! Sofort!“ Er schoss mit seiner Maschinenpistole, wir hörten einen Aufschrei und wussten, der Gegner war getroffen. Schnell setzen wir uns ab und versuchten, eine Straße zu überqueren. Auch dort wurden wir beschossen und erwiderten das Feuer eine Weile. Im Mondschein sah ich, wie einer nach dem anderen einen Rückzieher machte. Halblaut rief ich: „Menne, lass uns abhauen!“ Er hörte mich nicht, und von da an waren wir getrennt. Später berichtete ein Kamerad, dass es den Major „erwischt“ hätte. So hatte ich meinen besten Kumpel verloren.

 

Vom 20. April an irrten wir hinter den Linien umher. Nachts sind wir gelaufen, am Tage haben wir uns versteckt. Die Verpflegung war kümmerlich. Unsere eiserne Verpflegung durfte erst nach drei Tagen – so der Befehl eines Offiziers – geöffnet werden. Da wir keinen Offizier mehr in unserer Gruppe hatten, erteilte ein Feldwebel die Erlaubnis zum Anbrechen der Ration. Nachts versuchten wir, in abgelegene Häuser zu schleichen, um etwas Essen zu erbitten. So kam es dann, dass ein Brot in 15 – 18 Teile geteilt werden musste. Ehe man es dann genoss, hat man es im Mondlicht betrachtet und überlegt, ob man es doch lieber in den Brotbeutel stecken sollte, denn man wusste ja nicht, wann man wieder etwas Essbares erhalten würde. Die Zivilbevölkerung gab uns Nachricht, dass die Russen schon einige Tage im Ort seien, und wir sollten so schnell wie möglich verschwinden, weil sie Repressalien befürchteten. Das verstanden wir nur zu gut. Wenn wir Glück hatten, stießen wir auf Spargelfelder. Mit dem Seitengewehr versuchten wir, die Stangen zu ernten, füllten sie in den Brotbeutet, damit wir am Tag in unseren Verstecken darauf kauen konnten, um den Durst zu löschen. Genauso machten wir es mit einem Kartoffelfeld. Wir rösteten die Kartoffeln abends auf kleiner Glut, denn viel Rauch hätte uns verraten.

 

Wie viele Tage wir hinter den Linien waren, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war es früh am Morgen, als wir im Raum südlich von Berlin – gemäß der Beschilderung die Beelitzer Heilstätten – in einem tiefen Wald unser Versteck fanden. Von einer Anhöhe des Waldes sahen wir vor uns viele Baracken, auf deren Dächern deutlich rote Kreuze markiert waren, um die Gebäude auf diese Weise für Flugzeuge sichtbar zu machen. Wir lagen verborgen, im Schutz von hohen Blaubeersträuchern, und beobachteten die Lage. Alles war ruhig. Nichts deutete auf den Feind hin. Die Neugier plagte mich sehr. Wir meinten, es müsse ein Lazarett sein, in dem noch deutsche Landser lägen. Vielleicht könnte man dort Zuflucht finden. Nach einigem Hin und Her gab mir der Vorgesetzte die Erlaubnis, die Lage zu erkunden, so pirschte ich mich allein voran. Was hat mich damals nur angetrieben, dieses Risiko einzugehen?

 

Ich nutzte jede Deckung, um an die dicht am Wald gelegene Baracke zu gelangen. Den Giebel der Baracke hatte ich bereits erreicht. Alles war still – unheimlich still. Vorsichtig wagte ich einen Blick um die Ecke, um die Lage zu erfassen. Es waren noch etliche Bauten zwischen hohen Bäumen zu sehen. Ich wollte einen Blick durch die Fenster riskieren, aber bei dem Versuch, um die Ecke zu gehen, öffnete sich plötzlich eine Tür. Heraus kam ein Russe, schloss die Tür hinter sich und ging in entgegengesetzter Richtung seinen Weg. Zum Glück konnte ich wieder um die Ecke verschwinden. Auch dieses Gelände war fest in der Hand des Feindes. Ich kehrte zu meinen Kameraden zurück, erstattete Bericht. Dann warteten wir die Dunkelheit ab und machten einen großen Bogen um das Gelände, um unseren Weg fortzusetzen. Unser Ziel war, auf die eigenen Leute zu stoßen.

 

In den Dörfern, die wir mit großer Vorsicht durchstreiften, fanden wir weiße Tücher vor, die an Häusern und Zäunen befestigt waren. Für uns ein Zeichen, in Richtung Norden, also Berlin, zu marschieren, hatte keinen Zweck mehr. Wir erfuhren, dass die südliche Richtung, also die Altmark, von den Russen noch nicht besetzt war. So änderten wir unsere Marschroute. Aber auch dort stießen wir auf feindliche Posten, denen wir nach kurzem Feuerwechsel auswichen. Tage und Nächte vergingen. Tag und Datum nahmen wir nicht wahr, nur die Uhrzeit konnten wir feststellen. Es war schon in der Morgendämmerung, als wir angerufen wurden: „Parole!“ Wir waren aufs äußerste gespannt: War es eine Falle oder wirklich ein deutscher Posten? Ein Unteroffizier legte seine Waffen ab. Wir übernahmen Feuerschutz. Da wir keine Parole wussten, ging er mit erhobenen Händen in Richtung des Anrufers. Wären es Russen gewesen, so hatten wir immer noch Gelegenheit, das Weite zu suchen. So waren wir erleichtert, als wir feststellten, dass wir tatsächlich auf einen Vorposten unserer Stellung gestoßen waren. Nach sieben Tagen im Niemandsland hatte das Herumirren ein gutes Ende gefunden.

 

Nach kurzem Fußmarsch waren wir in dem kleinen Örtchen Brück in der Altmark. In der Schule wurden wir Versprengten registriert und alle Daten neu festgelegt. Bei der Angabe meines Geburtsdatums stellte der Feldwebel fest – es war der 27 April – dass ich an dem Tag meinen 18. Geburtstag hatte. Meine Freude war besonders groß, weil ich mich gerade an diesem Tag aus einer völlig aussichtslosen Lage wieder in den eigenen Linien befand. Wir wurden dann in Privatquartiere eingewiesen. In der Bahnhofstr. 27 hatten die Wirtsleute in ihrer guten Stube Stroh ausgebreitet, damit wir uns erst einmal ausschlafen konnten. Dann begann die große Wäsche. Nach 10 Tagen war dies unsere erste Reinigung. In der Zwischenzeit hatte der Hausherr Kaninchen geschlachtet, und seine Frau bereitete sie sehr lecker zu. Endlich, nach langer Zeit, genossen wir wieder eine warme Mahlzeit.

 

Am nächsten Tag wurde meine Gruppe zur Auffangstelle für Versprengte in der Dorfgaststätte abgestellt. Also war die Front immer in Bewegung. Es kamen russische Aufklärungsflugzeuge, die lediglich mit Bordwaffen auf uns feuerten. Der Tag ging zur Neige, wir freuten uns auf unser Quartier. Dann kam der Befehl, zu neuen Bereitschaftsräumen zu marschieren. Über Feldwege, an blühenden Kirschbäumen und Sträuchern vorbei, die uns etwas schützten, erreichten wir bei sehr warmen Temperaturen spätabends unser Ziel: einen großen Bauernhof. Scheunen und sonstige Platzeinheiten waren bereits belegt, Wir fanden in einer Stube des Bauern noch Platz, den er nicht gerne zur Verfügung stellte. Für uns war die Hauptsache, unsere Knochen ausstrecken zu können. So ging es tagelang weiter: Stellungen, die wir bezogen hatten, mussten immer wieder gewechselt werden. Als der Abend hereinbrach, hieß es, die Russen hätten uns fast eingekesselt. Nur ein Gewaltmarsch von 30 – 35 km könnte uns noch retten.

 

Diese Entfernung musste bis zum Morgengrauen geschafft werden. Rette sich, wer kann, lautete die Parole. Zu Fuß, zu Pferde, Gespanne mit Geschützen sowie mit Verwundeten – alles war auf den Beinen, keiner wollte bei den Russen bleiben. Da niemand eine Pause einlegte, wurden meine Kräfte immer geringer, und ich versuchte, mich eine Weile an einem Pferdewagen fest zu halten, auf dem man Verwundete gelegt hatte. Diese Marscherleichterung tat gut, war aber nicht von langer Dauer. Wir wurden von einem Viererzug einer Artillerie-Abteilung mit Geschütz eingeholt. Plötzlich war ich zwischen den Fahrzeugen eingeklemmt. Geistesgegenwärtig rettete ich mich auf den Wagen der Verwundeten. So konnten meine Beine ein wenig ruhen. Die Räder der Fahrzeuge hatten sich verkeilt, und sicher wären meine Beine nicht verschont geblieben. Im Morgengrauen entkamen wir der Einkesselung. Quartier waren wieder große Scheunen mit genügend Stroh und Heu. Das Gewehr im Arm, nur den Stahlhelm abgelegt, wurden wir nach Stunden geweckt, da es Mittagszeit war. Irgendetwas gab es zu essen, geschmeckt hat alles, was es gab, denn der Hunger war groß.

 

Am 1. oder 2. Mai erfuhren wir bei der Ausgabe der Parole, dass der Führer im Kampf gefallen sei. Unser Oberbefehlshaber sei nun Großadmiral Dönitz. Von Stunde an wurde der alte militärische Gruß eingeführt. Täglich hieß es: „Absetzen!“ In einem Abschnitt hatten wir schon den Befehl zum Rückzug. Aber weil wir das Vordringen der Russen abwehren konnten und sogar mit Panzerfäusten auf sie schossen, glaubten wir nicht an den Ernst der Lage. Als es dann doch sein musste, war es fast zu spät, denn der Feind kam von der anderen Seite. Wir sahen, dass die Artillerie ihre Geschütze und den Großteil ihrer Pferde verlassen hatten. Da war uns klar: Nur zu Fuß konnte man sich retten. Am Dorfausgang trafen wir auf Pferdewagen mit Verwundeten. Leider konnte der Transport nicht fortgesetzt werden, weil das Gelände nicht befahrbar war. Es waren moorige Wiesen. Man legte die Verwundeten auf Zeltbahnen auf einigermaßen trockenem Boden. Alle Waffen wurden abgenommen, damit keiner sich selbst richten konnte. So konnten sie unbewaffnet von den Russen versorgt werden. Die Pferde wurden ausgespannt und in die freie Natur entlassen. Wir suchten Deckung im nächstliegenden Wald. Werden wir es schaffen, den Russen zu entkommen?

 

Bearbeitet von: Ute Mielow-Weidmann


5. Teil

 

Anfang Mai – vor der Kapitulation – versuchten wir, uns vor den Russen zu retten. Ich berichtete im 4. Teil über unseren Weg von der Altmark Richtung Westen und wie wir knapp der Einkesselung der Russen entkamen. Die Verletzten mussten entwaffnet zurückgelassen werden. Durch mooriges Gelände flohen wir zu Fuß.

 

Es kostete eine große Überwindung, die verwundeten Kameraden zurückzulassen. Aber wir hatten keine Alternative, wenn wir mit dem Leben davonkommen wollten.

 

Im Schutz des Waldes erreichten wir wieder eine Ortschaft. Auf der Hauptstraße - in Sichtweite - sahen wir die Fahrzeuge der Russen. Irgendwie hatten sie uns auch bemerkt. Ich wollte gerade einen Koppelzaun erklimmen, da zog mir ein gewaltiger Luftzug die Füße weg. Ich lag mit der Nase auf dem Boden und ein lauter Knall sagte mir, dass wir beschossen wurden. Eiligst durchquerten wir das Dorf, immer verfolgt von Granateinschlägen. Wir versuchten, den etwa 500 – 600 Meter entfernten Wald wieder zu erreichen. Der Weg dorthin war ein kniehohes Kleefeld, also nicht leicht, um hindurch zu rennen. Das Sperrfeuer ließ uns keine Wahl. So schnell, wie jeder konnte, musste dieses Feld überwunden werden. Deckung zu suchen kam nicht mehr in Frage. Wer hinfiel, war irgendwie getroffen. Am Waldesrand sollten wir wieder Stellung beziehen. Mein Kamerad und ich schaufelten uns gleich ein tiefes Erdloch, was die anderen Kameraden nicht taten. Sie machten sich nur einen kleinen Erdwall, um die Köpfe zu schützen. So lagen wir am Waldrand und beobachteten das Gelände. Plötzlich tauchten die Russen in bedrohlicher Nähe auf. Mein Kamerad ging aus unserem Erdloch, um dem Zugführer Meldung zu machen. Kaum war er weg, da eröffnete – ohne Befehl – der Kamerad am rechts von mir postierten Maschinengewehr das Feuer. Von da an wusste der Feind, wo wir lagen. Sofort belegte er den Waldrand mit Granatfeuer. Es wurde höchst gefährlich. Die Erde wurde förmlich umgepflügt. Mit jedem Einschlag, der näher kam, rutschte ich tiefer in mein Erdloch.

 

Zuvor hatte ich meine Panzerfaust außer Reichweite geschoben – zur Sicherheit. Wie lange der Beschuss durch die Russen dauerte – 10 oder 15 Minuten – ich weiß es nicht mehr. Die Russen waren wohl der Meinung, uns ausgeschaltet zu haben, und hörten auf zu schießen. Als die Ruhe wieder einkehrte, kam mein Kamerad zurück und fand mich zugedeckt mit Laub und Ästen von den in der Nähe eingeschlagenen Granaten. Die Kameraden in der Nähe, die sich nur einen kleinen Schutzwall geschaufelt hatten, hatten Splitter in Armen und Beinen und im Gesäß. Sie waren verwundet. Das Erdloch hat mich gerettet, das Eingraben hatte sich gelohnt. Ich hatte keinen Kratzer!

 

Immer wieder wurden die Fronten verlegt, da die Übermacht der Russen zu groß war. Keiner wusste, wo und wie die Front verlief. Nur am Maschinen-Gewehrfeuer erkannten wir, wo der Feind war, da die russischen Maschinengewehre langsamer schossen als unsere. Nach einem kurzen Uniformappell teilte man uns mit, dass wir geschlossen zum Amerikaner geführt werden, nicht als eine geschlagene Armee, deswegen die Kontrolle der Unform und der Waffen. Wir waren also nicht weit weg von der Elbe, denn bis dahin war der Amerikaner schon vorgedrungen. Leider wurde dies nicht Wirklichkeit, denn die Russen waren schneller mit ihren Panzern als wir zu Fuß. Wir waren eingekesselt und kamen nicht mehr zur Elbe. Keiner der Vorgesetzten konnte die Lage beurteilen und somit auch keine Befehle erteilen. Als wir wieder einen rettenden Wald erreicht hatten, in dem sich schon unzählige Landser befanden, kam unser Trupp, angeführt von einem Feldwebel und einigen Unteroffizieren, einer Waldlichtung näher. Dort ließ man die Soldaten antreten in Reih und Glied, weil sie geschlossen über die Lichtung marschieren sollten. Als wir dies sahen, machten unsere Vorgesetzten halt, denn in dieser Lage noch eventuell anzugreifen, wäre wohl zwecklos. Wir kehrten also um und versuchten, in der Gegenrichtung zu entkommen. Weit kamen wir nicht, da mussten wir zusehen, wie auf einem Waldweg russische Soldaten eine Reihe von Zivilisten, die bereits auf der Flucht waren, durchsuchten.

 

Wieder änderten wir unsere Richtung. Es dauerte nicht lange, da standen wir vor einer Abteilung russischer Soldaten, die ihren Granatwerfer in Stellung brachten. So war uns auch dieser Fluchtweg versperrt. Unbemerkt konnten wir uns zurückziehen. Unsere Stärke war, nicht gesehen zu werden. Inzwischen näherten wir uns wieder der erwähnten Waldlichtung. Aus dieser Richtung kam uns gewaltiger Gefechtslärm entgegen. Nach meinem Ermessen – es war ein Offizier im Ledermantel, der die Soldaten hatte antreten lassen – sollten sie zusammengeschossen werden. Die Russen waren bereits am Waldrand in Stellung gegangen. Der Offizier im Ledermantel könnte ein Kommissar der Russen gewesen sein, der gut Deutsch sprach. Die Soldaten strömten auf uns zu. Zuerst dachten wir, es wären die Russen. Einer unserer Unteroffiziere warf die Waffe weg und ging mit erhobenen Händen voraus. Ich wollte es nicht wahrhaben, dass das das Ende war. Also lief ich tiefer in den Wald und suchte Deckung hinter einem verlassenen Lastkraftwagen, um die Lage erst einmal zu durchschauen.

 

Es stellte sich heraus, dass die Masse der Menschen diejenigen Landser waren, die man etwa eine halbe Stunde zuvor antreten ließ. Sie wurden auf der freien Lichtung von drei Seiten unter Feuer genommen. Es war also eine Falle. Jeder, der nicht getroffen wurde, versuchte, den Wald wieder zu erreichen. Zugleich setzte eine Feuerwalze von Granaten ein, die das Waldstück so richtig umpflügten. Jeder versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Zunächst gab mir der Lastkraftwagen beim Vorderrad Deckung, bis die Einschläge immer näher kamen. Ein Einschlag ging genau an der anderen Seite des LKW nieder. Von der Gewalt des Luftdrucks wurde mir ein Kamerad unter dem LKW entgegen geschleudert. Er war vollkommen durchsiebt von Splittern, jede Hilfe hätte nichts mehr genützt. Das war ein Zeichen für mich. Ich musste so schnell wie möglich dort weg, tiefer in den Wald hinein. Nach einiger Zeit ließ der Beschuss nach, und es kehrte langsam Ruhe ein. Sicher glaubte der Feind, uns erledigt zu haben.

 

Der Tag ging zu Ende, und die Nacht und der Wald gaben uns Ruhe und Schutz. Die Russen vermieden das Eindringen in den Wald und ließen Vorsicht walten. Am nächsten Tag versuchten sie durch das Legen von Feuern, uns aus dem Dickicht zu holen. Das gelang ihnen aber nicht. Wie viele Landser sich in dem Bereich aufhielten, vermag ich nicht zu sagen. Hunderte? Oder sogar Tausende? Zusammen mit den Vorgesetzten waren wir eine Gruppe von ca. 40 oder 50 Mann. Keiner wusste einen Ausweg. Unser Ziel war und blieb das Erreichen der Elbe, um so zu den Amerikanern zu gelangen. Nach der Karte und dem Kompass waren wir etwa 5 km davon entfernt. Ich prägte mir die Karte des Vorgesetzten lange ein. Die Vorgesetzten beschlossen, in der Dunkelheit allein einen Fluchtweg zu erkunden. Für mich stand fest: Wenn die sich erst von uns abgesetzt hätten, würden wir sie nie wieder sehen. Dieser Ansicht war auch ein Kamerad. Die Nacht verging und unsere Ahnung war richtig, denn keiner kam zurück. Die Lage war wirklich aussichtslos: Keine Verpflegung, nichts zu trinken, dazu warmes Maiwetter und schwelendes Unterholz vom gelegten Feuer. Vor Durst haben wir Wurzeln von den Tannen gekaut. Es hieß also, den Tag abzuwarten und in der kommenden Nacht auf eigene Faust irgendwie zur Elbe zu gelangen.

 

Während des Tages hatten wir eine kleine Gruppe gebildet von 7 – 8 Mann, die den Mut hatten, das Risiko zu wagen. Andere hatten die Nerven verloren und weinten und jammerten uns die Ohren voll, was nicht gerade ermutigend war. So hart es war, mit denen konnte man das Risiko nicht eingehen. In der Dunkelheit sonderten wir uns langsam ab, was auch gut gelangt. Mond und Sterne gaben uns die ungefähre Richtung an. Da keiner die Führung übernehmen wollte, setzte ich mich an die Spitze und übernahm sie. In angemessenem Abstand folgten mir die Kameraden. Sorgsam und mit großer Anspannung versuchten wir, alles in der Dunkelheit zu sehen oder zu hören. Der Weg führte uns über freies Gelände, Wiesen und Gräben. Weidende Kühe und Pferde bereiteten uns oft ein Problem, da man nie wusste, ob auf der Weide auch noch Russen waren. Plötzlich abgeschossene Leuchtkugeln erhellten die Nacht taghell. In diesen Momenten dachten wir, man hätte uns entdeckt. Jede Deckung wurde genutzt, sogar den Atem hielten wir an. Wieder einmal musste eine Straße überquert werden, auf der sich die Russen bewegten. Schon lag ich zum Sprung bereit, da näherten sich Fahrzeuge und dahinter laut grölende, betrunkene Russen. So blieb ich in meiner Deckung und ließ alles in gefährlicher Nähe an mir vorbeiziehen. Einige machten sogar Halt, um ihre Notdurft zu verrichten, und das nicht weit weg von mir. Es war schon eine komische Lage, in der ich mich befand. Ich musste nur die Nerven behalten, denn sie wussten ja nichts von meiner Anwesenheit.

 

Als wieder Ruhe eingekehrt war, gab ich den Kameraden das Signal zum Weitergehen. Plötzlich befanden wir uns auf einem großen Gelände voller Fahrzeuge und Kriegsmaterial. So leise wie möglich schlichen wir uns hindurch. In einem geschlossenen LKW-Funkwagen brannte Licht. Als ich mich dem Wagen näherte, hörte ich russische Stimmen. Es war, als ob das Blut stockte. Wir waren mitten zwischen den Russen! Leise entfernten wir uns und suchten das Weite. Aber wohin? Richtung Westen war ja unser Ziel. Es dauerte nicht lange, und wir hatten das Gelände verlassen. Plötzlich standen wir an einem tiefen Abgrund, und zur Freude aller lag vor uns die Elbe. Der Entschluss stand fest: Dort wollten wir hin. Nach einer kurzen Beratung beschlossen wir in der Gruppe, dass ein Kamerad und ich den Versuch unternehmen sollten, das Ufer zu erkunden. Langsam glitten wir die Böschung hinunter. Alles war beängstigend still. Der Strand war übersät mit Waffen und allerlei Ausrüstung. Ein PKW stand mit den Vorderrädern im Wasser. Da kam mir der Gedanke, mich mit Hilfe des Reservereifens, der am Heck befestigt war, und der Dunkelheit vom Strom treiben zu lassen, um das westliche Ufer zu erreichen. Kaum hatte ich mich dem Fahrzeug genähert, ertönte die Fahrzeughupe irrsinnig laut. Nun hieß es, schnell zu handeln. Die restlichen Kameraden waren inzwischen auch am Strand erschienen. Jeder ergriff die Flucht.

 

Schon gingen die ersten Leuchtkugeln in die Luft. Die Kameraden waren weit vor uns. Wir beide hatten, ohne viel zu überlegen, eine zündende Idee. Am Ufer lag ein Lastkahn, der mit dicken Tauen verankert war. Schnell ergriffen wir die Gelegenheit, uns über das Tau auf den Kahn zu retten. Wir hatten gerade das rettende Deck erreicht, als am Ufer der Teufel los war. Lautlos verharrten wir an Deck. Aus der Deckung konnten wir beobachten, wie russische Soldaten mit Hunden den Strand absuchten. Der Kahn selbst blieb verschont. Als die Lage sich beruhigt hatte, versuchten wir, unter Deck zu kommen, um die Nacht zu verbringen. Wo die übrigen Kameraden geblieben waren, wussten wir nicht. Der nächste Tag war ein herrlicher Maitag. Blauer Himmel, soweit man sehen konnte, nur unsere Lage war problematisch. Am Ufer liefen die Russen Streife, was wir durch das Bullauge beobachten konnten. Am anderen Ufer fuhren die Amerikaner mit weithin sichtbaren Fahnen Streife. Die Welt war um uns herum still und friedlich, was für uns unbegreiflich war. Wir beide wussten nicht, was wir aus unserer aussichtslosen Lage machen sollten. Wir waren ja noch in voller Uniform und bewaffnet. Die Lage war mehr als nur angespannt. Immer wieder wagten wir Blicke durch das Bullauge. Es war so ungefähr um die Mittagszeit herum, aber was heißt das schon, ohne etwas zu essen oder zu trinken zu haben. Plötzlich bemerkten wir eine Person, die versuchte, auf den Kahn zu gelangen. Wir hatten uns unter Deck versteckt und erwarteten die Dinge, die auf uns zukamen. Was wäre, wenn wir von den Russen entdeckt würden? Schon kam die Person unter Deck. Zuerst sahen wir die Schuhe die Treppe herunterkommen. Die erste Entspannung: Es waren keine Soldatenstiefel, also ein Zivilist. Langsam kam er immer weiter herunter. Als wir uns in die Augen sahen, war auch er erschrocken. Seine erste Frage: „Was macht ihr denn noch hier?“ Unsere Antwort: „Du siehst ja, wie wir aussehen!“ Darauf erklärte er uns, dass der Krieg bereits seit drei Tagen vorbei wäre, und wir sollten nach Hause gehen. Wir konnten es noch gar nicht fassen. Aber in Uniform wäre es ja eine Selbstaufgabe. Nachdem er auf dem Kahn einige Zivilsachen von den Schiffern hervorgeholt hatte, wechselten wir die Kleidung. Kurz entschlossen gingen wir an Land. Dort mischten wir uns unter die Menschen. Die meisten waren Ausländer: Franzosen, Holländer, Belgier, alle wollten über die Elbe gen Westen. Dazwischen russische Posten und jetzt natürlich wir beide. Beim Anblick der Posten überkam uns doch ein recht komisches Gefühl. Aber der Wille, es erst einmal geschafft zu haben und in Zivil zu sein, verdrängte alle Ängste.

 

Bearbeitet von: Ute Mielow-Weidmann

 

6. Teil

 

Ich blieb in Deckung neben der Straße und ließ die Russen an mir vorbeiziehen. Sie wussten ja nichts von meiner Anwesenheit.

 

Als wieder Ruhe eingekehrt war, gab ich den Kameraden das Signal zum Weitergehen. Plötzlich befanden wir uns auf einem großen Gelände voller Fahrzeuge und Kriegsmaterial. So leise wie möglich schlichen wir uns hindurch. In einem geschlossenen LKW-Funkwagen brannte Licht. Als ich mich dem Wagen näherte, hörte ich russische Stimmen. Es war, als ob das Blut stockte. Wir waren mitten zwischen den Russen! Leise entfernten wir uns und suchten das Weite. Aber wohin? Richtung Westen war ja unser Ziel. Es dauerte nicht lange, und wir hatten das Gelände verlassen. Plötzlich standen wir an einem tiefen Abgrund, und zur Freude aller lag vor uns die Elbe. Der Entschluss stand fest: Dort wollten wir hin. Nach einer kurzen Beratung beschlossen wir in der Gruppe, dass ein Kamerad und ich den Versuch unternehmen sollten, das Ufer zu erkunden. Langsam glitten wir die Böschung hinunter. Alles war beängstigend still. Der Strand war übersät mit Waffen und allerlei Ausrüstung. Ein PKW stand mit den Vorderrädern im Wasser. Da kam mir der Gedanke, mich mit Hilfe des Reservereifens, der am Heck befestigt war, und der Dunkelheit vom Strom treiben zu lassen, um das westliche Ufer zu erreichen. Kaum hatte ich mich dem Fahrzeug genähert, ertönte die Fahrzeughupe irrsinnig laut. Nun hieß es, schnell zu handeln. Die restlichen Kameraden waren inzwischen auch am Strand erschienen. Jeder ergriff die Flucht.

 

Schon gingen die ersten Leuchtkugeln in die Luft. Die Kameraden waren weit vor uns. Wir beide hatten, ohne viel zu überlegen, eine zündende Idee. Am Ufer lag ein Lastkahn, der mit dicken Tauen verankert war. Schnell ergriffen wir die Gelegenheit, uns über das Tau auf den Kahn zu retten. Wir hatten gerade das rettende Deck erreicht, als am Ufer der Teufel los war. Lautlos verharrten wir an Deck. Aus der Deckung konnten wir beobachten, wie russische Soldaten mit Hunden den Strand absuchten. Der Kahn selbst blieb verschont. Als die Lage sich beruhigt hatte, versuchten wir, unter Deck zu kommen, um die Nacht zu verbringen. Wo die übrigen Kameraden geblieben waren, wussten wir nicht. Der nächste Tag war ein herrlicher Maitag. Blauer Himmel, soweit man sehen konnte, nur unsere Lage war problematisch. Am Ufer liefen die Russen Streife, was wir durch das Bullauge beobachten konnten. Am anderen Ufer fuhren die Amerikaner mit weithin sichtbaren Fahnen Streife. Die Welt war um uns herum still und friedlich, was für uns unbegreiflich war. Wir beide wussten nicht, was wir aus unserer aussichtslosen Lage machen sollten. Wir waren ja noch in voller Uniform und bewaffnet. Die Lage war mehr als nur angespannt. Immer wieder wagten wir Blicke durch das Bullauge. Es war so ungefähr um die Mittagszeit herum, aber was heißt das schon, ohne etwas zu essen oder zu trinken zu haben. Plötzlich bemerkten wir eine Person, die versuchte, auf den Kahn zu gelangen. Wir hatten uns unter Deck versteckt und erwarteten die Dinge, die auf uns zukamen. Was wäre, wenn wir von den Russen entdeckt würden? Schon kam die Person unter Deck. Zuerst sahen wir die Schuhe die Treppe herunterkommen. Die erste Entspannung: Es waren keine Soldatenstiefel, also ein Zivilist. Langsam kam er immer weiter herunter. Als wir uns in die Augen sahen, war auch er erschrocken. Seine erste Frage: „Was macht ihr denn noch hier?“ Unsere Antwort: „Du siehst ja, wie wir aussehen!“ Darauf erklärte er uns, dass der Krieg bereits seit drei Tagen vorbei wäre, und wir sollten nach Hause gehen. Wir konnten es noch gar nicht fassen. Aber in Uniform wäre es ja eine Selbstaufgabe. Nachdem er auf dem Kahn einige Zivilsachen von den Schiffern hervorgeholt hatte, wechselten wir die Kleidung. Kurz entschlossen gingen wir an Land. Dort mischten wir uns unter die Menschen. Die meisten waren Ausländer: Franzosen, Holländer, Belgier, alle wollten über die Elbe gen Westen. Dazwischen russische Posten und jetzt natürlich wir beide. Beim Anblick der Posten überkam uns doch ein recht komisches Gefühl. Aber der Wille, es erst einmal geschafft zu haben und in Zivil zu sein, verdrängte alle Ängste.

 

Der Name des Ortes hieß Ferchland, ein Name, der nie aus meinem Gedächtnis verschwand. Das Wichtigste war für uns erst einmal, etwas zu trunken zu bekommen. Von dem Zivilisten bekamen wir eine Konservendose mit Erbsen gegen den Tausch von Tabakwaren. So war jedem geholfen. Auf der Suche nach etwas trinkbarem Wasser landeten wir in einem Gartenlokal, das voll besetzt war mit Ausländern. Wir hatten alles gesund überstanden und konnten es immer noch nicht fassen, dass der Krieg zu Ende war und kein Schuss mehr fiel. Die große Frage war, wie es jetzt weiter geht. Wir hatten uns gerade einen Platz gesucht, um das Wasser mit den Erbsen zu verspeisen, da kam ein bewaffneter Russe zu uns und wollte uns sprechen. Nun hieß es wieder, die Nerven zu behalten. Nach einigem Hin und Her gaben wir an, Italiener zu sein. Damit dies nicht weiter geklärt werden konnte, zogen wir es vor, das Weite zu suchen. Wir wanderten am Ufer entlang, um in den Ort zu gelangen. Es sah überall verheerend aus. Zu Hunderten hatten sich die Soldaten ihrer Ausrüstung entledigt. Alle hatten irgendwie verzweifelt versucht, über die Elbe zum Amerikaner zu gelangen. So war der Strand übersät mit den weggeworfenen Waffen und Ausrüstungen jeglicher Art. Zivilisten waren gerade dabei, aus einem umgestürzten PKW Lebensmittel, Rosinen, Zucker sowie Kaffee zu bergen, was wir aufmerksam beobachteten. Vielleicht wäre ja auch etwas für uns dabei. Plötzlich hörten wir Marschschritte auf der Straße. Ein Blick ließ uns förmlich erstarren.

 


       

 

     

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorn marschierten ein russischer Posten und dahinter die 5 Kameraden, mit denen wir bis zum Strand zusammen waren. Man hatte sie also gefasst, somit waren sie gefangene. Als wir dies erkannten, duckten wir uns hinter dem PKW und suchten schnell das Weite, um im Ort die Lage zu erkunden. Dort herrschte trügerische Ruhe. Überall sah man die Spuren der Kämpfe, zerstörte Häuser, ausgeplünderte Wohnungen. Wir beide waren auf der Suche nach etwas Essbarem, vor allem aber nach Zivilsachen, damit wir noch unauffälliger wurden. Im Keller eines halb zerstörten Hauses fanden wir beides. Wir ließen uns den Inhalt der Gläser mit eingemachten Früchten erst einmal schmecken. Es dauerte nicht lange, und hinter uns standen männliche Personen. Im Geist sahen wir wieder die Russen. Zum Glück waren es Kameraden unserer 2. Kompanie, die auch plötzlich Zivilisten waren. Sie hatten bereits einige Tage früher den Krieg beendet und auch schon eine Unterkunft in einem Haus, deren Boden man mit einer Klapptreppe erreichen konnte. Sobald Gefahr drohte, flüchtete jeder auf den Boden, und die Treppe wurde eingezogen. Unten blieben nur alte Frauen mit den Kindern. Das lenkte die Russen ab, die die Suche nach uns Versprengten nicht weiter verfolgten. Es vergingen 2 Tage auf diese Weise. Dann sollte eine Registrierung stattfinden.


 

Alle, die im Ort nicht zu Hause waren, mussten den Heimweg antreten. Das bedeutete für mich den Fußmarsch von der Albe bis über die Oder, also gute 200 km gen Osten zu wagen. Am 14. Mai 1945 ging der Marsch mit einigen hunderten Frauen, Männern und Kindern los. Nach dem zweiten Tag trennten uns die Russen von Frauen und Kindern. Wir Männer waren vollkommen isoliert. In mir stieg das Misstrauen, dass dieser Marsch in Russland enden wird. Die Richtung Osten gefiel mir ganz gut, denn mit jedem Kilometer kam ich meiner Heimat näher. Kurz vor Ende des Tages kamen wir in dem Ort Kade an. In diesem Ort hatte ich etwa 10 Tage zuvor Brückenwache. Die Brücke war jetzt gesprengt. Man leitete uns über eine Behelfsbrücke, die den nicht sehr breiten Wasserlauf überspannte.

 

Als wir den Ort hinter uns ließen, standen wir vor einem Drahtzaun, hinter dem man ca. 30.000 bis 35.000 Soldaten festgesetzt hatte. Vor dem Eingangstor wurden wir von einem russischen Kommissar mit der Reitpeitsche sortiert. Wer groß und blond war, war ein SS-Mann oder Offizier nach seiner Meinung. Sie wurden zur linken Seite beordert. Wer alt und nicht tauglich war, kam auf die rechte Seite. Da ich alle meine persönlichen Papiere vernichtet hatte, war ich nur 16 Jahre alt, als er mein Alter wissen wollte. Man glaubte mir, und ich kam auf die rechte Seite zu dem kleinen Haufen. Hinter den anderen Männern schloss sich das Tor zur Gefangenschaft. Unseren Haufen geleitete man zu einem Gehöft, auf dem der Kommandant wohnte. Nach einer Nacht auf dem mit Feldsteinen gepflasterten Hof erhielten wir einen mit russischen Schriftzeichen beschriebenen Zettel. Man sagte, es sei ein Dokument. Was wirklich darauf stand, wusste ich nicht. Die wenigsten Russen hätten es wohl selbst lesen können. Der Zettel mit einem Stempel war für uns nun der Passierschein bei vielen Kontrollen. Einen etwa 15 Jahre älteren Kameraden hatte ich kennen gelernt, der in der Nähe meiner Heimat ebenfalls zu Hause war. So hatten wir beide dieselbe Wegstrecke mit dem Ziel, erst einmal Berlin zu erreichen. An die Verpflegung erinnere ich mich nicht mehr. Entweder wir haben etwas in verlassenen Häusern gefunden, oder wir haben es erbettelt. In dieser Zeit hat jeder jedem geholfen, obwohl alles sehr knapp war. Unser Weg führte uns über Brandenburg, Potsdam nach Berlin.

 

Wir schafften die Strecke ohne große Probleme. Teilweise liefen wir auf der Autobahn (Avus), was frustrierend war, denn wenn man einen Berg hinter sich gelassen hatte, konnte man den nächsten in der Ferne sehen. Bis der erreicht war, vergingen einige Stunden. Übernachtet haben wir in Lauben und verlassenen Häusern. Ich hatte mir einen kleinen zweirädrigen Fahrradanhänger organisiert. Damit transportierten wir unser Hab und Gut: organisierte Kleidung, einen Kochtopf und alles, was von Nutzen sein könnte. So hatten wir den Rücken frei und konnten schneller marschieren. Wir liefen pro Tag ca. 30 bis 35 km. Durch Berlin haben wir drei Tage gebraucht. Die Stadt sah erschütternd aus: Trümmer über Trümmer. Viele Brücken waren gesprengt. Oft mussten wir weite Umwege machen, um wieder die richtige Richtung zu finden. Als wir versuchten, das Brandenburger Tor zu passieren, stoppte uns ein russischer Posten und befahl uns, Palmenkübel von einer Straßenseite zur anderen zu tragen. Sie waren bestimmt für die Siegesparade mit Truman, Stalin und Churchill. Bei einer günstigen Gelegenheit ergriffen wir die Flucht und verschwanden in den Trümmern. Am Alexanderplatz hatte mein Weggenosse Verwandte. Dort blieben wir die Nacht und erhielten nach Tagen etwas Vernünftiges zu essen.

 

Am nächsten Tag brachen wir früh auf in Richtung Küstrin, kamen also der Oder immer näher. Unsere Marschroute verlief entlang der Reichsstraße Nummer 1, von der wir die nächsten 100 km nicht mehr abzuweichen brauchten. Je näher wir der Oder kamen, desto heftiger schienen die Kampfhandlungen in den letzten Kriegswochen gewesen zu sein. Oft boten sich Bilder des Grauens. Außer zerschossenen Panzern, Geschützen und Häusern lagen tote Tiere in Gräben und

Feldern, die von der herrschenden Hitze wie große Ballone aufgedunsen waren und mit den Beinen steil in den Himmel ragten. Es war grausam.

 

Bearbeitet von: Ute Mielow-Weidmann


Endlich wieder zu Hause

 

Berlin hatten wir längst hinter uns gelassen. Nachts schliefen wir in Scheunen und Ställen, da die Wohnungen von den Russen völlig verwüstet waren. Wir suchten Rhabarber von den Feldern und Kartoffeln aus Kellern. Zügig erreichten wir den Ort Seelow. Er liegt etwa 6 km vor Küstrin, also an der Oder, die ja unser Ziel war. Niemand wagte den Übergang, da der Pole auf der anderen Seite die Hoheit hatte. Die Hauptbrücke war gesprengt worden, um den Vormarsch der roten Armee zu stoppen. Trotz der vielen Posten gingen wir zu einer belebten Holzbrücke. Für uns gab es nur eins: Wir müssen auf die andere Seite der Oder. Mutig stürzten wir uns in das Gedränge. Meine zweirädrige Karre schob ich vor mir her. Immer, wenn ein Posten zu sehen war, humpelte ich und schob meine Mütze tiefer ins Gesicht. Keiner kümmerte sich um uns. So erreichten wir das andere Ufer. Berge von Trümmern erschwerten uns die Orientierung. Der nächste Ort war Vietz, Von dort aus sollten sich unsere Wege trennen. Kurz vor der Kreuzung wurden wir von der polnischen Miliz angehalten und auf ein Gehöft geleitet zur Kontrolle. Wir mussten unsere Sachen vorzeigen. Weil den Polen das nicht schnell genug war, schlugen sie uns mit der Reitpeitsche. Es folgten Verhöre, und wir wurden festgesetzt.

 

Nach zwei Tagen ließ man mich laufen. Mit zwei weiteren Kameraden gingen wir der Heimat entgegen. Ein Schlagbaum versperrte den Weg, und ein Russe verweigerte uns den Durchgang. Nach einigem Hin und Her und meinem russischen Dokument verlangten wir, den Kommandanten zu sprechen. Bevor der Russe aber wieder erschien, suchten wir schnell querfeldein das Weite. Im nächsten Ort – Liebenow – trafen wir gegen 14:00 Uhr ein. Dort erfuhren wir, dass der Pole die Zivilverwaltung allein hatte. Nun waren es nur noch 6 km bis zum Heimatort Marwitz.

 

In der Ferne sahen wir einen Pferdewagen, der mit Russen besetzt war. Wir setzten unseren Marsch fort, aber die Russen drehten auf uns zu, und wir mussten stehenbleiben. Einer hielt uns mit der Waffe in Schach, die anderen durchsuchten uns und fanden bei einem Kameraden noch Uhren. Als sie diese erbeutet hatten, ließen sie uns wieder laufen. Kurz darauf sah ich die ersten Häuser meines Dorfes.

 

Alles sah aus wie immer, nur eine unheimliche Ruhe war auf den Höfen. Keinen, den ich von weitem sehen konnte, erkannte ich. Es waren fremde Personen. Die Kirche mit dem Glockenturm hatte alles überstanden. Am Dorfeingang traf ich die ersten Marwitzer bei der Feldarbeit. Es waren der ehemalige Bürgermeister und ein Bekannter. Beide hielten inne, erkannten mich und fragten: „Junge, wo kommst du denn her?“ Sie teilten mir mit, dass ich alle lebend antreffen werde. Gleichzeitig gaben sie mir den Rat, nicht die Dorfstraße zu benutzen. Wir gingen den verdeckten Weg hinter den Gehöften entlang. Ich näherte mich von der hinteren Seite meinem Elternhaus und öffnete die Gartentür. Dort stieß ich mit großer Überraschung und Freude auf meine Mutter, die gerade beim Sortieren von Kartoffeln war. Am 18. Januar 1945 war Abschied gewesen, und am 24. Mai 1945 war ich wieder daheim. Verständlicherweise war die Freude groß. Wir erörterten noch die kritische Lage, als ein russischer Posten erschien, der auf unserem Gehöft Wache hielt. Im Schlachthaus wurde für die Russen geschlachtet. Durch Zeichensprache verständigten wir uns. Er erfuhr, dass ich der Sohn war. Auch mein Vater und meine Großmutter konnten es kaum fassen, dass ich wieder bei ihnen war. Meine Schwester arbeitete noch und kam erst nach Feierabend heim. Da stand der Russe schon am Tor und wartete auf sie, nahm sie an die Hand und brachte sie in die Küche, wo wir uns stürmisch begrüßten. Obwohl der Russe kaum Deutsch sprach, freute er sich mit uns und brachte uns Speck und etwas Fleisch.

 

Am nächsten Tag meldete ich mich bei dem polnischen Bürgermeister. Von da an hieß es für mich wie für alle Deutschen: Arbeiten für die Sieger. Ich schlachtete für die Polen Rinder und Kälber. In der Zeit von Juli bis September 1945 habe ich für uns Deutsche etwa 12 – 15 Pferde geschlachtet. Alles wurde in der Gemeinschaftsküche gekocht und an alle ausgegeben.

 

Ich erfuhr, dass die Russen seit dem 30. Januar 45 mein Heimatdorf besetzt hatten. Da sich auf dem Anwesen meiner Eltern die Schlachterei befand, nutzten sie die Räumlichkeiten, um die eigenen Truppen mit Frischfleisch zu versorgen. Meine Eltern, meine Schwester und die Großmutter mussten das Haus verlassen und flüchteten mit anderen Leuten in die Nähe der 10 km entfernten Stadt Landsberg. Erst im März oder April trauten sie sich wieder auf ihren Besitz Allerdings durften sie nur eine Stube und die Küche nutzen. Die anderen Räume hatten die Russen für sich beschlagnahmt. Die gute Stube war völlig ausgeräumt und mit Balkengerüsten versehen, um die geschlachteten Tierhälften aufzuhängen. Als ich nun nach Hause kam, war ich natürlich erstaunt zu sehen, was aus unserer guten Stube geworden war. Trotzdem waren wir zufrieden, denn wir waren alle gesund und konnten nun gemeinsam die Probleme lösen.

 

 

Bearbeitet von: Ute Mielow-Weidmann

 

 

Share by: