Zeitzeuge W. Schendel

Unser Zeitzeuge


Walter Schendel



Jahrgang 1928

Unsere Zeitzeugen berichten



Mein Vater war SPD-Mitglied. Er hatte sein SPD-Abzeichen (drei eiserne Pfeile) unter dem Revers. Das ist immer gut gegangen. Mein Vater war von Beruf Rechtsbeistand und hatte seine Kundschaft in Wandsbek, das damals noch zu Preußen gehörte. Er brauchte sein Parteiabzeichen, denn wenn er Gleichgesinnte traf, war das das Erkennungszeichen. Aber leider starb er 1936. Das war das Jahr, in dem mein Bruder – damals 17 Jahre alt -, eine Kaufmannslehre bei der Reederei Bock, einem Großonkel meiner Mutter, begann. Die Reederei Bock besteht noch (Sitz: Rödingsmarkt), heißt heute aber anders.


In den 30er Jahren hatte eigentlich jeder Arbeit und genug zu essen. Man merkte von der Diktatur nichts. Mit 10 Jahren wurde ich Pimpf, Jungvolk, mit 12 kam ich in die Hitler-Jugend. Uns hat das Spaß gemacht, es war Abenteuer: mit Ausflügen, Jugendlager, in Zelten, gutes Essen. Später, ab 1939, veränderte sich die Lage. Da war ich in der Hitlerjugend. Man merkte, dass die Jugendtreffs eine Art militärische Ausbildung waren. Eine Gruppe bekam ein rotes, eine andere ein blaues Tuch, und wir mussten gegeneinander kämpfen. Das war teilweise richtig brutal. Dann ging das los mit der Rationierung. Wir erhielten Lebensmittelkarten. Aber keiner hungerte. Das änderte sich im Laufe der Zeit und begann nach dem Frankreich-Feldzug. Die Lebensmittel wurden knapper. Als Hitler Russland überfiel, wurden die Lebensmittel weiter rationiert und damit noch knapper. Aber es gab Sonderzulagen an Brot, Butter, Fett, Sachen, die man aus den besiegten Ländern nach Deutschland brachte.


Es wurde gemunkelt, dass Hitler die Juden verfolgte. Dann sahen wir Juden, die den Stern trugen. Wenn ich aus der Schule kam, musste ich einkaufen zum Krämer Hartmann, der in Polen gefallen war. Seine Frau führte den Laden weiter. Da kam eines Tages eine Frau herein und die Krämersfrau sagte: „Ihre Eier kommen ersten morgen.“ Als ich nach Hause kam, fragte meine Mutter mich immer, was ich alles aufgeschnappt hätte, und ich sagte, ja, was soll das bedeuten: Da kam eine Frau rein mit einem Stern, und die Frau Hartman sagte, dass ihre Eier erste morgen kämen. Aber da waren doch Eier. „Ja,“ sagte meine Mutter, „wenn das eine Jüdin war, die bekommen nur Enteneier, die sind nicht so gesund, die kann man nur zum Backen nehmen.


1938 wurde mein Bruder zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und 1939 zum Militär.


1942 ging das dass mit den Fliegerangriffen los. Während der Bombenangriffe waren wir im Luftschutzkeller. Wir wohnten in der Hinschenfelder Straße in Wandsbek. Jedes Haus musste einen Luftschutzkeller abgeben. Wir trafen uns immer in dem Luftschutzkeller an der Ecke unserer Straße, weil man sagte, man solle besser den letzten Keller nehmen, das sei sicherer. Aber dort lagerten so viele Kohlen und nahmen viel Platz vom Luftschutzkeller ein. Eine Frau mit einem Hund stülpte sich immer einen Kochtopf über die Ohren und schrie ununterbrochen. Da bekamen wir dann doch große Angst. Als Entwarnung war, ging ein älterer Mann vor die Tür, und sagte: „Oh, das große Haus brennt.“ Wir wollten nach Haus gehen, aber da brannte unser Haus auch. Wir haben nicht viel retten können, nur die Küche blieb erhalten. Wir haben auch gelöscht, aber die Stuben im ersten Stock waren durchgebrannt. Eine Frau, die über uns wohnte, hatte ihre Kohlen in ihre Wohnung gebracht, weil sie einen Luftschutzkeller abgeben musste, und die Brandbomben führten dann dazu, dass gerade diese Zimmer besonders gut brannten (wegen des Phosphors).


So wurde also im Juli 1942 unser Haus zerstört. Wir wohnten in einem Reihenhaus, alle anderen blieben heil, unseres war kaputt. Einige Häuser ausgebombt, einige blieben stehen. Meine Mutter fand keine Unterkunft. Wir zogen dann erst einmal in die Küche. Die Wände der Küche waren stehen geblieben, aber die Küchentür war angeschwollen und ließ sich nicht ganz schließen. Wir schliefen auf dem Fußboden. Nachbarn, die nicht ausgebombt waren, gaben uns ein paar Decken und einige Möbel. Für die Ausgebombten gab es Sonderzulagen für Lebensmittel und für Heimtextilien und Bekleidung, aber für Möbel nicht. Wir hatten noch das Sofa mit in die Küche genommen, der Tisch blieb erst einmal stehen, ein Bett musste man uns zur Verfügung stellen. Da schlief meine Mutter mit meiner jüngsten Schwester. Wir wohnten also in der Ruine.


Meine älteste Schwester war dienstverpflichtet in einem Rüstungsbetrieb in Wandsbek. Mein Bruder war Soldat. Im Sommer ging das ja ganz gut in der Küche, aber dann regnete es überall durch, und meine Mutter ging zu einer Dame, die in dem Haus gegenüber eine große Wohnung hatte. Dort erhielten wir durch Zuweisung der Partei ein Zimmer und wohnten zu Dritt in dem Zimmer. Aber meine Mutter litt sehr unter den beengten Lebensverhältnissen. Deswegen sagte sie eines Tages zu der alten Dame, sie hieß Frau Sander, dass sie nach Rendsburg zu ihrer Mutter wolle, sie hielte diesen Zustand nicht mehr aus. Von Neumünster konnte sie mit dem Zug fahren, bis Neumünster musste sie per Anhalter fahren, nach einigen Tagen waren meine Mutter und meine Schwester dort angekommen.


Also wohnte ich in dem Zimmer allein. Eines Abends, etwa zwei Wochen nach der Abreise meiner Mutter, kam Frau Sander zu mir und sagte, es wären Leute von der Partei da gewesen, die meinten, Frau Schendel sei ja mit der Tochter weggefahren und dass ich nicht allein ein ganzes Zimmer für mich beanspruchen könne und dass sie in unserem Zimmer andere Flüchtlinge unterbringen müssten. Mich wollten sie woanders hinbringen. Dann wurde ich vorgeladen. Ich komme zum Heimabend, und der Fähnleinführer sagte: „Wenn wir fertig sind, Walter, bleib du mal hier.“ Die waren über alles unterrichtet. Der Fähnleinführer sagte: „ Hast du hier noch in Hamburg Verwandtschaft?“ „Ja“, sagte ich, „aber die sind ausgebombt, und die eine Tante Ella hat in Wandsbek-Tonndorf ein Wochenendhäuschen, und da wohnen sie jetzt alle.“ Und der Onkel Paul hatte eine Tischlerei. „Du kommst morgen zu mir und gibst mir die Adresse. Du darfst nicht mehr allein dort in dem einen Zimmer wohnen.“ Ich bin dann nach Tonndorf gelaufen und habe mich nach meiner Tante durchgefragt. „Tante Ella, du musst mich aufnehmen.“ Weigern konnte sie sich nicht. Ich mochte meinen Onkel und meine Tante nicht so gern, aber was hilft es? Dann wohnte ich dort, hatte aber immer Verbindung zu meinen Freunden und bin immer erst abends zu meiner Tante gegangen. Sie sollte so wenig Umstände wie möglich durch mich haben. Und dann – ein paar Tage später - kam meine Mutter wieder zurück. Wir gingen zu Frau Sander. Das Zimmer sollte von einer anderen Familie belegt werden, aber Frau Sander mochte uns. Wir blieben einfach da. Das hat viel Ärger gegeben. Frau Sander musste die Familie dann in einem anderen Zimmer unterbringen, da hatte sie selbst dann kaum noch Platz. Es wurden Kochzeiten vereinbart, denn nun waren es vier Partien, die in der Küche kochen mussten. Und wenn meine Mutter eigentlich an der Reihe war, hieß es immer, das dauere noch, das Essen sei noch nicht gar.


Wir wohnen also weiterhin mit drei Personen auf einem kleinen Zimmer bei Frau Sander gegenüber der Ruine unseres Hauses, und zwar insgesamt acht Jahre, also bis 1950. Sonntags hatte ich Ausbildung in der Esdorf-Kaserne: 08-Pistole, Karabiner, ungeladene Panzerfaust.


Jeder misstraute jedem. Einmal hörte ich den Feindsender, ganz leise. Meine Mutter bekam das mit und schimpfte sehr mit mir. Sie hat mir das verboten, weil sie Angst hatte, dass jemand das hören könnte. Die Wände waren sehr hellhörig. Und dann hätte man uns zur Verantwortung gezogen, wir „wären dran gewesen“.


Das Leben nahm weiter seinen Weg, das Essen wurde knapper, wir näherten uns dem Jahr 42, und im August kam die Nachricht, dass mein Bruder gefallen war. Meine Mutter wurde über Nacht schneeweiß. Und das wirkte sich auf mich und meine Schwester auch aus. Meine Mutter hatte kein Interesse mehr. Sie kümmerte sich kaum um uns. Dann kam der eine Onkel, der zur See fuhr, bei uns vorbei. Er hatte kein Schiff mehr, war dienstverpflichtet, sollte zur Kriegsmarine eingezogen werden. Das wollte er nicht und hat sich dann freiwillig gemeldet nach Österreich. Dort wurden Bunker auf Gasdichtigkeit erprobt, d. h., die Materialien wurden daraufhin geprüft, ob sie den Bunker auch dicht halten, so dass kein Gas hineinströmen kann. Mein Onkel hatte Urlaub. Meine Mutter hatte meiner Oma geschrieben von dem Tod ihres Sohnes, und mein Onkel hat Urlaub bekommen, weil meine Mutter so furchtbar getroffen war von dem Tod ihres Sohnes. Da waren wir aber noch nicht ausgebombt. Zu meiner Mutter sagte mein Onkel: „Denk daran, dass du deine beiden Kinder nicht vernachlässigst, sie nehmen sie dir sonst weg.“ Eine Schwester von der Fürsorge kontrollierte immer, ob alles in Ordnung ist. Das hat etwas genutzt. Da bekam meine Mutter Angst, denn die Schwester Grete, so hieß die Frau von der Fürsorge, kam unangemeldet, wie zu anderen Witwen auch. „Frau Schendel, das Leben geht weiter, Sie sind nicht die einzige, die einen Sohn verloren hat, andere fallen auch, auch Väter und Söhne.“ Tatsächlich beruhigte sich meine Mutter dadurch ein wenig.


Weitere Bombenangriffe folgten, immer wieder mussten wir in den Keller. Geregelte Schule war aber möglich. Die Volksschule war eine Knabenschule, und es waren nur die Scheiben kaputt. Die Mädchenschule war ausgebombt. Sie kamen dann zu uns. Die Fenster wurden zugenagelt. Im Winter musste jeder ein Brikett oder Holz mitbringen. Wir behielten unsere Wintersachen an, weil das in der Schule so entsetzlich kalt war. 1943 war es zu Ende mit der Schule. Die Jugendweihe hatte ich in voller HJ-Uniform in der Hermann-Göring-Schule in Wandsbek. Der Volksschulabschluss war geschafft. Anfang 1944 begann ich eine Maurerlehre. Unser Betrieb hat nur geflickt, Flicktour nannte man das. Heroklidwände auf dem Boden, Wände gerissen, Löcher in der Wand – alles wurde geflickt und neu gemacht. Wir Lehrlinge mussten immer den Sand durchsieben, mit Zement mischen und eimerweise hochhüsern.


Freitags hatten wir von der Hitlerjugend Dienst. Alarm war auch noch. Manchmal bin ich dem Dienst ferngeblieben, denn ich musste morgens früh aufstehen, und die kleine Baufirma, bei der ich lernte, hatte überall Aufträge. Ich musste alles zu Fuß machen.


Aber dann hatte ich auf einer Baustelle einen Unfall: Ich bin mit der vollen Schubkarre weggerutscht. Das kam so: Ich musste mit der vollen Schubkarre über ein dickes Brett gehen, das über die offenen Wände gelegt war. Sie kippte mir seitlich weg, und ich fiel seitlich in die Steinhaufen, die unter dem Brett waren. Danach war ich sieben Wochen krank und konnte diese Arbeit nicht weiter leisten. Meine Mutter ging daher zum Meister und löste den Lehrvertrag, aber später – nach dem Krieg - war ich bin dann wieder dort und wollte weiterlernen, aber das klappte nicht.


Ich kam dann im November 1944 ins Wehrertüchtigungslager Wenzendorf Kreis Buchholz und wurde zum Sanitätshelfer ausgebildet: freiwilliger Zwang zur freiwilligen Meldung. Im Januar 45: Musterung und Gestellungsbefehl als Sanitätshelfer ins Feldlazarett Lauenburg – darüber habe ich in dieser Zeitschrift im November 2012 schon berichtet.


Am 8. Mai war Schluss, der Krieg zu Ende. Eine Woche nach Kriegsende kam ein englischer Jeep mit englischen Ärzten ins Lager und ein kleineres Fahrzeug mit Engländern und Engländerinnen in Uniform und übernahmen das Lazarett. Wir standen alle draußen vor den Zelten und empfingen die Engländer mit einer militärischen Begrüßung. Nach kurzer Unterhaltung mit den Ärzten übernahmen die Engländer das Lazarett. Als erstes musste die Hakenkreuzfahne heruntergenommen werden, und die englische Fahne wurde gehisst. Bessere Zeiten begannen. Etwas später kam ein LKW mit Medikamenten und Lebensmitteln. Da hatten wir ein gutes Leben und waren froh, dass alles vorbei war. Dann wurden wir alle mit einem LKW abgeholt und ins Durchgangslager nach Trittau gebracht. Dort waren sehr viele Gefangene aus Ostdeutschland, und die konnten nicht so schnell entlassen werden, weil ja der Russe in Ostdeutschland war. Aber wir, die wir in der britischen Zone wohnten, wurden nach zwei Wochen entlassen. Jeder von uns bekam ein Weißbrot und zwei Dosen Corned Beef, und dann konnten wir sehen, wie wir zurecht kamen. Ich bin dann wieder von Trittau mehr oder weniger zu Fuß nach Wandsbek in die Hinschenfelder Straße gegangen in das Zimmer, in dem meine Mutter mit der jüngsten Schwester wohnte. Danach begab ich mich zu meiner alten Baufirma und wollte meine Lehrzeit fortsetzen. Das ging aber nicht. Also war ich arbeitslos und versuchte, durch Gelegenheitsarbeiten Geld zu verdienen: Steine klopfen in den Ruinen in den Straßen von St. Georg und Eilbek (60 RM die Woche). Dafür bekam man die Schwerarbeiterkarte. Das hieß eine höhere Lebensmittelzuteilung. Nicht wegen der 60 RM habe ich Steine geklopft, sondern wegen der Schwerarbeiter-Karte für Lebensmittel. Für 60 Reichsmark bekam man ein Brot.


Wenn ich keine Arbeit hatte, ging ich einmal in der Woche „stempeln“. Dann erhielt ich die Nachricht, dass es in der Ahrensburger Straße Arbeit gäbe. Dort hatte sich ein Deutscher selbständig gemacht. Er reparierte die gesamten Militärschuhe von der englischen Armee. Außerdem verkaufte er Mehl- und Zuckersäcke, aus denen ich den Staub entfernte. Die Mehl- und Zuckersäcke waren aus sehr gutem Material und ließen sich zu Geschirrtüchern und Tischdecken o. Ä. verarbeiten. Aber auch wir Arbeitskräfte organisierten uns einige Säcke für unsere Familien. Meine Schwester nähte daraus Tischdecken.


Dann arbeitete ich in einer Bohnerwachs- und Schuhcreme-Fabrik in Barmbek. Mit dem Flaschenzug wurden die großen Fässer noch oben zum Boden gezogen, und im Parterre arbeiteten Frauen, die die Bohnerwachs-Dosen füllten und den Deckel aufschraubten. Und ich musste das hochgehievte Fall öffnen und auskippen oder –schaufeln, so dass es die Rutsche, die in die darunter liegende Etage führte, hinunterlief zu den Arbeitsplätzen der Frauen. Aber eines Tages wurden alle entlassen, und ich musste mich wieder arbeitslos melden.


Die schlimmste Zeit begann nach 1945 – das waren die Hungerjahre. Von den Engländern bekamen wir nur wenig Ration. Als ich nach der Gefangenschaft bei meiner Oma ankam, hat sie mich erst einmal in die Wanne gesteckt, ich hatte kein Zeug zum Wechseln und stank.


In der Hinschenfelder Straße waren viele Häuser stehen geblieben. Dort hatten die Leute noch alle ihre Sachen. Schließlich waren sie nicht ausgebombt. Am Friedrich-Ebert-Damm waren auch Häuser stehen geblieben. Einige waren von den Engländern besetzt. Auf der einen Seite waren Engländer untergebracht und auf der anderen Seite Engländerinnen. Und dort war auch das englische Depot. Von meinen ehemaligen Spielkameraden – jeder kannte den anderen – erfuhr ich, dass man im Lager eine Hilfe brauchte. Dort ging ich dann hin. Das englische Depot war im Norman-Reichert-Werk untergebracht. Das Depot im Normann-Reichart-Werk war das Versorgungslager u. a. für die Britischen Besatzungstruppen im Norden. Dort arbeiteten wir jeden Tag. Da gab es alles, von der Stecknadel über Lebensmittel bis zur Garderobe.


Bei den Engländerinnen bekam ich heraus, dass die interessiert waren an Sachen. Die damalige Situation war folgende: Wir bekamen ganz kleine Rationen an Nahrung und viele Leute starben, verhungerten und erfroren. Meine Freunde sagten zu mir: „Kannst du da nicht hingehen und was anbieten, eintauschen gegen Zigaretten?“ Zigaretten – das war die Währung auf dem Schwarzen Markt. Ich sprach Englisch. Ich bin dann zu den Frauen hingegangen und habe Sachen von meinen Freunden ausgetauscht. Ein Freund sagte: „ich habe hier eine ganze Elefantenfamilie aus Elfenbein.“ Ich nahm erst einmal nur die Elefantenfrau und ging zu den Engländerinnen. Eine Miss Wade sagte zu mir: „ Wait, I’ll come down, show me the thing first, please.“ Zwei Stangen Zigaretten, zwei Dosen mit Tabak, Zigarettenpapier, fünf oder sechs Tafeln Cadbury-Schokolade, das bot sie mir für die Elefantenfamilie. Ich sollte den Elefanten dalassen und mit der gesamten Elefantenfamilie wiederkommen, alle aus echtem Elfenbein. Das war natürlich verboten, und ich habe auch ein bisschen „Schmu“ gemacht. Schließlich war das gefährlich. Es gab ja auch unverhoffte Polizeikontrollen. Bevor die Frau, für die ich das verkaufen sollte (eine Nachbarin, die ich über einen Spielkameraden kennen gelernt hatte), mir die Elefantenfamilie gab, zeigte sie mir noch ein feines asiatisches Teeservice. Der Verkauf der Elefantenfamilie hat geklappt und ich dachte, dass ich vielleicht noch mehr verkaufen kann. Daher nahm ich zunächst einen Teller von dem Teeservice mit und zeigte ihn der Engländerin Miss Wade. Dann habe ich ihr gesagt, dass ich ihr ein ganzes Service davon bringen kann. Sie war begeistert, aber sie wollte mehr von dem Service sehen. Von den Tafeln Schokolade, die ich für den Verkauf der Elefantenfamilie erhielt, habe ich zwei behalten, auch eine Dose Tabak. Die Frau, für die ich das verkaufte, gab mir dann zwei Schachteln Zigaretten und von der Schokolade bekam ich einen Riegel. Das war natürlich sehr kleinlich, fand ich, und ich war froh, dass ich nicht alles, was ich erhandelt hatte, herausgegeben hatte.


Ich sagte der Frau, für die ich verkaufte, dass die Engländerin an dem Teeservice interessiert sei, dass sie aber mehr davon sehen wolle. Sie gab mir die Teekanne mit und ich brachte ihn der Engländerin. Sie bot mir zwei Stangen Zigaretten, ich wollte drei + Tabakdosen + Schokolade + eine große Dose Kandis. Ich bin dann zurück und sagte der Frau, dass sie zwei Stangen Zigaretten und ein paar Tafeln Schokolade und Tabak und eine große Dose Bonbons für das Service bekäme. Sie war einverstanden. Die Engländerin Miss Wade gab mir auch einmal drei Sandwiches – das waren drei dreieckige Doppelscheiben, die ich mit nach Hause nahm. Nach dem Verkauf ging ich erst nach Hause und packte alles, was ich als Provision behalten hatte oder erhielt, unter das Sofa. Das musste alles gut versteckt werden. Über dem Sofa lag eine Decke, die ging bis zum Fußboden. Die Frau, von der ich die Sachen verkaufte, war Kriegerwitwe. Was habe ich für sie alles verkauft: die Elefantenfamilie aus Elfenbein, das Teeservice, einen japanischen Fächer, Ringe, Ketten aus Gold und einiges mehr.


Die Engländerinnen arbeiteten alle im Norman-Reichert-Werk. Eines Tages fragte mich Miss Wade, ob ich Arbeit hätte. Ich verneinte. Wir hatten ja noch nicht einmal ein Arbeitsamt. Sie gab mir folgenden Tipp: „Go to the British Labour Office.“ Ich bin dann an die Alster gegangen und habe herumgehorcht und das britische Arbeitsamt gesucht, und irgendwie erfuhr ich, dass das englische Arbeitsamt in dem runden Gebäude am Jungfernstieg/Ecke Ballindamm war. Ich ging dort also hin. Es warteten da viele. Ich wurde vorgeladen. Da sitzt ein Mann und fragt mich, was er für mich tun könne. Ich sagte ihm, dass Miss Wade mich hierher geschickt hätte, weil ich doch einen Job brauchte. Er fragte mich, ob ich als Bote laufen wolle im Norman-Reichert-Werk. Er gab mir eine Karte und schickte mich dahin. Da saß sogar ein Deutscher an der Rezeption. Ich konnte sofort anfangen. Nun war ich „Runner“.


Für die einzelnen Waren gab es besondere Räume. Dann war der gesamte Fuhrpark dort. Ich musste die Lieferscheine abgeben, dann fuhren die Wagen an die Rampe, und dann wurden die Waren aufgeladen. Da habe ich die Gelegenheit wahrgenommen zu organisieren. Bei Feierabend wurden wir durchsucht. Einmal habe ich mir Ölsardinen organisiert, bin in die Toilette gegangen und habe die Dose dort ausgelöffelt, so einen entsetzlichen Hunger hatte ich. Ich habe dann, weil ich nicht wusste, wohin mit der Dose, die Dose in den Wasserkasten gelegt, aber da waren schon mehrere drin. Das konnte ich also nicht dauernd machen.


Im Norman-Reichert-Werk bekamen wir mittags auch etwas zu essen, aber sehr wenig. Ich habe dann auch einmal Schokolade in einen Strumpf gesteckt. Der Vehikelpark war auf de anderen Seite des Gebäudes. Ich konnte und durfte ohne Kontrolle durch eine kleine Tür zum Vehikelpark (Fuhrpark) gehen. An meiner Jacke hatte ich eine Karte mit Bild und meinem Namen befestigt als Beweis, dass ich dort als „Runner“ (Bote) beschäftigt war. Wenn ich zum Fuhrpark (Vehikelpark) musste, bin ich immer ganz schnell gelaufen, denn dahinter war ein Trümmerfeld, und in dem Trümmerfeld stand ein Herd, der kaputt war und dort etwas schräg in den Trümmern lag. Dort habe ich in einer kleinen Herdklappe meine Errungenschaften versteckt und so meine Familie zum Teil versorgt. Und nach Feierabend habe ich dann wieder meine Geschäfte gemacht. So haben wir überlebt. Wer weiß, wir wären sonst wohl auch verhungert.



Wir wohnten bei Frau Sander, bis ihre Verwandtschaft dort unterkommen wolle. Meine Mutter hatte sich immer um Wohnraum beworben. Eine Fürsorgerin kam nach dem Krieg zur Kontrolle. Sie war sehr nett, und sie sagte immer, es ginge nicht so weiter, dass wir in einem Raum von 8 qm mit drei Personen lebten. So bekamen wir ein Zimmer bei einer Kriegerwitwe in der Wandsetwiete.


1951 bekamen wir dann endlich eine Zwei-Zimmer-Wohnung von 50 qm in Eilbek in der Rückertstraße. Sie war zwar noch etwas feucht, noch frisch, aber neu gebaut. Ich fühlte mich wie im Himmel! 1952 wurde ich vom Arbeitsamt vermittelt zur GSO, das war die German Service Organisation in Mönchengladbach. Dort war ich bis 1954. Wir wohnten in der GSO mit 11 Männern auf einer Stube in einem ehemaligen Gefangenenlager, das aus vier Baracken bestand. Die meisten waren Ostdeutsche, die nicht in ihre Heimat zurückkehrten. Man fragte uns, als wir ankamen, wo wir wohnen. Einige kamen aus Hamburg und einige aus Kiel. „Was wollt ihr dann hier?“


Um die Arbeit in der GSO zu bekommen musste man sich für zwei Jahre verpflichten und erhielt drei Wochen Jahrsurlaub und über Weihnacht frei. Außerdem gab es – neben einem sehr guten Lohn – eine Freikarte in die Heimatstadt und Kaltverpflegung für die Dauer des Urlaubs (Wurst, Brot, Fett). Obwohl die Kosten für Unterkunft und Verpflegung abgezogen wurden, konnte ich von meinem Lohn meine Mutter in Hamburg unterstützen.


Während meiner Tätigkeit in Mönchengladbach sprach es sich herum im Lager der GSO, dass es zwischen Deutschen und Holländern Schiebereien gäbe. Sie verkauften Kaffee gegen D-Mark. Die Holländer wollten DM haben, die Deutschen Kaffee. Das waren Pakete mit Kaffeebohnen. Natürlich kaufte ich auch Kaffee. Meine Mutter hatte aber keine Kaffeemühle. Als ich dann Weihnachgtsurlaub hatte, kaufte ich meiner Mutter in Wandsbek bei Karstadt eine Kaffeemühle. Das war eine große Freude. Den Kaffee roch man im ganzen Haus. Und die Nachbarn, die das rochen, wollten dann auch Kaffee haben. Aber das habe ich verweigert, denn so richtig erlaubt war das nicht. Ich habe dann meiner Mutter geraten, Kaffee an die Nachbarn zu geben und zu tauschen. Das hat meine Mutter getan, bekam dafür mal für meine Schwester eine Bluse oder auch Obst für den Kaffee.


Ich hatte mich in der GSO neu eingekleidet. Das wurde dann von meinem Gehalt in monatlichen Raten abgezogen. Außerdem habe ich meiner Mutter einen Rock machen lassen und auch eine Bluse und andere Sachen, die ich dann Weihnachten mitbrachte. Manchmal packte ich auch Geschenke mit in die Pakete mit Schmutzwäsche, die ich meiner Mutter zum Waschen schickte. Willkommen war die Kaltverpflegung, die ich für meinen Urlaub erhielt: Die große geräucherte Wurst z. B. löste wahren Freudentaumel aus.


In Mönchengladbach nannte man uns „die Polacken“, die Flüchtlinge, und man fragte: „Warum haut ihr nicht wieder ab in eure Heimat?“ Die Bewohner von Mönchengladbach verhielten sich uns gegenüber nicht fair. Sie waren sehr unfreundlich zu uns. Wir waren nicht beliebt. Wir gehörten nicht hierher. Man bediente uns nicht in den Läden oder ließ uns warten, bis niemand sonst zu bedienen war. Man beschimpfte uns mit „Gesocks, das sich hier breit macht“. Nach den zwei Jahren habe ich meinen Vertrag aus diesem Grunde nicht verlängert. Ich wollte nach Hause, nach Hamburg zurück.



Danach bekam ich wieder Arbeitslosengeld, ging also Stempeln, machte einige Gelegenheitsarbeiten, kleinere Sachen, Vertretung und anderes.


Wenn man Stempeln ging, gab man die Karte ab, die wurde abgestempelt. Dann ging man rauf, und wenn man fragte, ob die was haben, wurde man reingerufen. Nach der Zeit bei der GSO habe ich mir immer eine Bildzeitung gekauft für 10 Pf und habe mir den Stellenmarkt angesehen und selbst etwas gesucht. 900 DM bekam ich 1971 monatlich und bin dann vom Verlag übernommen worden. Mir gefiel das dort sehr. Das war ein sehr sozialer Betrieb. Jedes Jahr gab es etwas mehr Geld, ich bekam eine Jahreskarte für Bus und Bahn und täglich 1,50 DM Essengeld oder ich konnte dort essen.


1971 bis 1986 hatte ich eine feste Anstellung in einem Verlag. Wegen Verschleißkrankheiten konnte ich mit 58 aufhören. Damals war der Verlag in der Blumenstraße an der Alster.


Die Judenverfolgung kam bei uns überhaupt nicht zur Sprache. Wir hatten in Wandsbek ein Zigeunerlager – gegenüber war eine Schule, das Haus war nicht ausgebombt. Auf einmal war das Zigeunerlager weg. Da haben die Leute natürlich gefragt. Im Hamburger Tageblatt stand, dass das Zigeunerlager Richtung Osten gefahren und dort angesiedelt worden ist. So war das mit den Juden auch. Die erste Zeit waren einige Juden zu sehen, auf einmal waren die alle weg, und es hieß, dass die alle Richtung Osten umgesiedelt wurden. Zuerst, als die Geschäfte der Juden zerstört wurden, haben wir das gar nicht so recht mitbekommen, weil das in Wandsbek nicht der Fall war, und unser Leben spielte sich in Wandsbek ab. Ich habe von den Verbrechen erst nach dem Krieg erfahren, weil die Engländer Filme zeigten über die KZ’s.

Stenografisch aufgenommen und bearbeitet: Ute Mielow-Weidmann





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